The Last Duel (Ridley Scott) USA 2021

„The Last Duel“ von Ridley Scott ist ein grandioses Historiendrama, das auf einem tatsächlichen Fall beruht, den der US-Amerikaner Eric Jager in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat. Es spielt im Frankreich des 14. Jahrhunderts und behandelt die Vergewaltigung von Marguerite de Carrouges (Jodie Comer) durch den Junker Jacques Le Gris (Adam Driver). Letzterer bestreitet den Sachverhalt, weshalb Marguerites Ehemann, der Ritter Jean de Carrouges (Matt Damon), den Fall vor dem königlichen Gericht zur Anklage bringt. Die Schuldfrage soll schließlich durch ein Duell auf Leben und Tod geklärt werden, das quasi einem Gottesurteil gleichkommt. Damit variiert der Film auch ein klassisches Erzählmotiv: Das mörderische Dreieck.

Perspektiven

Erzählt wird „The Last Duel“ in drei Kapiteln, jeweils aus der Perspektive der beteiligten Personen. Das erinnert natürlich stark an Akira Kurosawas Meisterwerk „Rashomon“, das ebenfalls eine Vergewaltigung aus mehreren Blickwinkeln beleuchtet. Diese Mehrfachperspektive ermöglicht einen tieferen Einblick in die Psyche der Protagonisten und die Komplexität der Geschichte. Sehr schön ist die Wiederholung einzelner Szenen, die von den jeweiligen Personen völlig unterschiedlich interpretiert werden. Da lächelt zum Beispiel Marguerite auf einem Fest dem Junker Jacques Le Gris zu, was dieser als Avance auffasst. Tatsächlich macht sie sich zusammen mit ihrem Ehemann über ihn lustig.

Figuren

Überhaupt sind die Protagonisten herausragend charakterisiert und besetzt: Auf der einen Seite der etwas einfach gestrickte, aber furchtlose und kampferprobte, manchmal auch hitzköpfige Ritter Jean de Carrouges, auf der anderen Seite der belesene, eitle Lebemann Jacques Le Gris, dessen Selbstüberschätzung und fehlende Selbstreflexion ihm schließlich zum Verhängnis wird. Zwischen ihnen die Literaturliebhaberin Marguerite, die eigentlich gar nicht zu Jean passt, aber keine Chance hat, ihrer Rolle als Frau im 14. Jahrhundert zu entkommen. Das Leben als Arrangement, die Ehe als Überlebensmodell, bis sie die Büchse der Pandora öffnet und die Vergewaltigung öffentlich macht. Genial ist Ben Affleck in der Rolle des zynischen, hedonistischen Grafen Pierre d’Alencon.

Emotionen

Die Lichtstimmung ist in kühlem Blau gehalten. Die Kameraarbeit, die Locations, die Ausstattung, die Narben auf den Körpern der Männer – alles stimmt bis ins kleinste Detail. Die Montage und die Filmmusik sind brillant. Ja, gibt es denn gar nichts zu monieren? Doch! Es ist die Mehrfachperspektive. Sie hilft bei der schonungslosen Analyse des eskalierenden Dramas. Sie dient der Ausleuchtung eines komplexen Geschehens bis in seine hinterletzte Ecke. Aber sie ist auch wieder der Emotionshemmer. Bei einem Perspektivwechsel zahlt ein Erzähler immer seinen Preis: Er verlässt seinen jeweiligen Protagonisten und verhindert so ein Mitzittern. Das dramatische Geschehen wirkt wie eine Versuchsanordnung, die durch ein Brennglas betrachtet wird. Es ist spannend und erhellend, aber nicht mitreißend. Es geht letztlich nicht unter die Haut. Ein Blick in die „TOP 20 der Filmgeschichte“ bestätigt diesen Zusammenhang. Alle Filme verlassen ihre(n) Protagonisten nie. Bis auf eine Ausnahme: „Psycho“. Aber da sorgt Meister Hitchcock wie bei einem Staffellauf für eine sofortige Kontinuität der Identifikation: Nach dem Ableben der Heldin zittern wir sofort mit dem Psychopathen Norman Bates mit, der das Motelzimmer von den Mordspuren säubert.

Showdown

Das Ende von „The Last Duel“ ist hochdramatisch. Mit ihrer Unbeugsamkeit und dem Gang an die Öffentlichkeit riskiert die inzwischen schwangere Marguerite letztlich ihr Leben, das ihres Mannes und das ihres Kindes. Denn sollte Jean beim Duell getötet werden, dann wäre sie nach dem Gottesurteil eine Ehebrecherin und Lügnerin und würde bei lebendigem Leib verbrannt werden. Ebenso riskiert Jean mit seiner Sturheit ihr beider Leben. Man kann es als Ironie des Schicksals bezeichnen, dass erst dieses letzte Duell, aus dem er schwerverletzt als Sieger hervorgeht, die beiden Eheleute näher zusammenbringt. Jeder weiß, was er auch für den anderen riskiert hat. Erst als der Film endet, ist das Fundament für eine Liebesgeschichte gelegt. Das ist zwar nicht hollywoodlike aber stimmig.

Ende

Am Ende ist Marguerites sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen: „Dass ein Kind seine Mutter hat, ist wichtiger, als dass sie recht hat.“ Das Schlussbild ist sehr schön und friedvoll – der pure Kontrast zum blutigen Kampf in der Arena. Marguerite spielt mit ihrem kleinen Sohn auf einer Wiese, der überraschenderweise ein Ebenbild ihres Ehemannes und nicht des Vergewaltigers ist. Weniger überraschend ist der Hinweis im Abspann, demnach Jean bei einem der Kreuzzüge sein Leben verloren hat. Dieses Ende ist ebenso schön wie kunstgerecht. Alles andere wäre ein erzählerischer GAU gewesen, der Einsturz der 6. Säule der Filmgestaltung (Defätismusskala). „The Last Duel“ ist auch ein Plädoyer für Wagemut, für das Aussprechen und Anprangern von Ungerechtigkeit, womit der Film auch etwas sehr Modernes hat (MeToo). Insgesamt ein ganz großer Wurf!

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "The Last Duel"

Der Graf von Monte Christo (Robert Vernay)

Nachdem Robert Vernay den gleichnamigen Roman von Alexandre Dumas 1942 schon einmal in schwarzweiß verfilmt hatte, 12 Jahre später die Farbversion. Leider wirkt diese Adaption heute etwas angestaubt und transportiert bei weitem nicht die Kraft anderer Meisterwerke aus dieser Zeit, wie etwa Fellinis „La Strada“ oder Kurosawas „Die sieben Samurai“. Das mag zum einen an der etwas überfrachteten Romanvorlage mit seiner Fülle an Personen liegen, zum anderen an der mangelnden Konzentration auf die emotionale Befindlichkeit des Helden. Das ist Kapitän Edmond Dantès. Eine Synchronisation mit seinen Gefühlen, mit seinem erlittenen Unrecht, seiner unerfüllter Liebe und seinen Rachegelüsten findet nicht immer statt. Die fehlende Fokussierung drückt sich auch in den vielen Halbtotalen und wenigen Nahaufnahmen aus. Der angeklebte Bart des Helden und das künstliche Blut leisten ihren Beitrag zum etwas antiquierten Eindruck. Edmonds körperliche und geistige Unversehrtheit nach 18 Jahren Kerker (!) mutet schon seltsam an.

Dabei geht Alexandre Dumas mit seinem Abenteuerroman in die Vollen. Der unbändige Wille und das Können, eine spannende Geschichte zu erzählen, ist schon beeindruckend. Gleich drei Erzählmotive schickt er hier nacheinander ins Rennen: „Unschuldig Beschuldigt“ (Hitchcocks Lieblingsmotiv), „Die unmögliche Liebe“ und „Rache“. Der Roman beruht auf einem Buch des französischen Polizeiarchivars Jacques Peuchet und wurde als Fortsetzungsroman veröffentlicht. Edmond Dantès wird am Tage seiner Verlobung mit der hübschen Mercédès Opfer einer politischen Intrige. Seine Gegner sind der Staatsanwalt de Villefort, Fernand Mondego, der ein Auge auf Mercédès geworfen hat sowie der eifersüchtige Offizier Caderousse. Ihr Komplott gipfelt in Edmonds Gefangennahme und Inhaftierung. Geschlagene 18 Jahre Einzelhaft im Château d’If muss der Held ertragen. Im Roman sind es 12 Jahre. 18 Jahre sind besser, aus dramaturgischen und handlungslogischen Gründen.

In seiner Einzelzelle gelingt Edmond im Laufe der Zeit die Kontaktaufnahme zu seinem Zellennachbarn Abbé Faria. Der Geistliche wird eine Art Mentor für den jungen Kapitän. Zudem ist er der Besitzer eines sagenumwobenen Schatzes auf der Insel Monte Christo. Erst im Angesicht seines Todes verrät Abbé den Fundort. Edmond nutzt das Ableben seines Freundes, um an dessen Stelle im Leichensack eingenäht zu werden. Auf diese Weise gelingt ihm die Flucht von der Gefängnisinsel. Schmuggler fischen Edmond aus dem Meer. Ihnen ist zwar klar, dass es sich hier um einen entsprungenen Häftling handelt, aber mit dem Gesetz und ihren Vertretern haben sie eh nichts am Hut.

In wechselnden Verkleidungen verschafft Edmond, der sich nun „Graf von Monte Christo“ nennt, in Marseille erstmal einen Überblick. Zu seinem Entsetzen muss er feststellen, dass sein geliebter Vater inzwischen verstorben ist und Mercédès mit Fernand verheiratet ist, der sich nun Comte de Montcerf nennt. In Paris sucht Edmond seine ehemalige Verlobte auf und gibt sich ihr zu erkennen. Das ist eine bewegende und dramatische Szene, in der Mercédès erklärt, dass sie Fernand nicht einfach verlassen kann. In der Annahme, dass Edmond tot ist, hat sie ihre Gefühle für den Geliebten im Laufe der vielen Jahre begraben. Außerdem hat sie einen 18-jährigen Sohn (Albert), den sie nicht einfach verlassen kann. Das ist dramatisch perfekt und setzt der Ungerechtigkeit sozusagen die Krone auf. Ab diesem Moment steht Edmonds Racheplänen nichts mehr im Wege.

Der Film hat ein paar Ungereimtheiten: Wie darf man sich denn die Nummer mit dem Leichensack vorstellen? Edmond trennt die Naht auf, schafft Abbé in seine Zelle, schlüpft in den Leichensack und näht ihn von innen zu? Vor allem Letzteres hätte ich gern mal in der Ausführung gesehen. Kein Wunder, dass der Film diese Szene einfach ausgespart hat. Ebenso unter den Tisch fällt, nach dem Fund des riesigen Schatzes, dessen Abtransport. Weiht Edmond die Schmuggler ein oder nicht? Wenn ja, warum werfen sie ihn nicht einfach ins Meer zurück und behalten den Schatz für sich? Wenn nein, wie kann Edmond allein und unbemerkt selbst Teile des Schatzes bergen und wegschaffen? Wieso erkennt Caderousse seinen alten Kapitän nicht, auch wenn 18 Jahre vergangen sind und Edmond sich als Pater verkleidet hat?

Den entscheidenden dramatischen Punkt ignoriert der Film ebenfalls, genau wie der Roman. Was ist das Schlimmstmögliche in dieser Spielanordnung? Nehmen wir mal an, dass Mercédès von Edmond schwanger war. Nach dessen Inhaftierung hätte sie auch Gründe, sich mit Fernand einzulassen. Als unverheiratete, schwangere Frau hätte sie Anfang des 19. Jahrhunderts nur schwer überleben und ihr Kind schützen können. Also, als später „Der Graf von Monte Christo“ den Comte de Montcerf öffentlich bloßstellt und Albert Satisfaktion verlangt, dann hätte das ein Duell mit seinem eigenen Sohn bedeutet. Diese hochdramatische Situation muss ein guter Erzähler eigentlich durchspielen und retardieren. Des weiteren hätte es mehr Gefahrenmomente für den „Graf von Monte Christo“ nach seiner Flucht geben müssen. Er agiert zu sehr im Stile eines allmächtigen Drahtziehers, den nichts und niemand etwas anhaben kann.

Die vierteilige französiche Fernsehserie von 1998 mit Gerard Depardieu in der Hauptrolle deutet diese Möglichkeit zumindest an. Bei dieser Verfilmung fragt man sich aber angesichts von Depardieus Körperfülle, wieso die 18 Jahre Einzelhaft keine sichtbaren Spuren hinterlassen haben? Immerhin erzeugt die Fernsehserie mehr Emotionen. Das liegt zum einen eben an einer zeitgemäßeren Umsetzung, zum anderen an der detaillierten Werktreue. So werden zum Beispiel die Giftmorde von de Villeforts Ehefrau beschrieben, nicht aber in Vernays Verfilmung. Am Ende erleidet die Fernsehserie Schiffbruch, als Edmond und Mercédès sich an den Gestaden des Mittelmeeres in die Arme fallen. Was für eine Schmonzette! Hier hält Vernay sich zurecht an die Romanvorlage, die keine Zukunft der Geliebten vorsieht.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 3 blaue Smileys und 4 schwarze traurige Gesichter für "Der Graf von Monte Christo"

Tödliche Entscheidung (Sidney Lumet)

Was für ein grandioses Thrillerdrama von Sidney Lumet! Nichts für schwache Nerven. Angeführt von einer herausragenden Schauspielerriege, allen voran Philip Seymour Hoffman als drogensüchtiger Immobilien-Buchhalter Andrew „Andy“ Hanson, führt der Weg der Protagonisten geradewegs in den Abgrund. Fehlendes Geld der beiden Brüder Andy und Hank (Ethan Hawke) für ein vermeintlich besseres Leben in Rio oder zum Begleichen von Schulden für den Unterhalt der Tochter sind der Auslöser für einen scheinbar einfachen Überfall auf den Juwelierladen der eigenen Eltern. „Ganz easy“, versucht Andy seinem jüngeren Bruder den Coup schmackhaft zu machen. Einfach Samstagmorgen reinspazieren, der kurzsichtigen Putzfrau Doris, die zu der Zeit im Laden aushilft, Bargeld und Schmuck stehlen. Fertig. Die Versicherung würde für den Schaden aufkommen und sie hätten nach Abzug der Hehlerprovision noch 120.000 Dollar. So weit der Plan. Doch der endet im Fiasko. Eine „Tödliche Entscheidung“.

Denn zum einen steht nicht Doris, sondern die eigene Mutter Nanette Hanson zur Tatzeit im Laden, zum anderen traut Hank sich nicht, den Überfall allein durchzuführen. Deshalb engagiert er ohne Andys Wissen den Kleinkriminellen Bobby Lasorda. Der entpuppt sich aber als dilettantisches Großmaul, fuchtelt beim Überfall mit seiner Waffe herum und verängstigt Nanette dermaßen, dass sie, in die Enge getrieben, zu einer in den Schubladen deponierten Pistole greift. Beim nachfolgenden Schusswechsel wird Bobby getötet und Nanette schwer verletzt. Auf der Intensivstation wird sie, bereits hirntot, noch tagelang am Leben gehalten. Ihr Ehemann und Vater der beiden Brüder Charles Hanson (Albert Finney) hat die Vorsorgevollmacht und soll über die Abschaltung der lebenserhaltenden medizinischen Geräte entscheiden. Nicht nur dieser Moment wird fachgerecht retardiert und ist an Dramatik kaum zu überbieten. Denn bei Charles’ innerem Kampf, im Krankenhaus und zu Hause, sind seine Söhne anwesend, die letztlich diese Qualen verursacht haben. Eine klassische Suspense-Situation, denn der Zuschauer weiß mehr als Teile der handelnden Personen. Das treibt die Spannung zum Maximum. Auch Charles’ Entscheidung endet tödlich. Er gibt schließlich sein Einverständnis für das Ableben seiner geliebten Frau.

Dabei erzählt Lumet diesen Strudel fataler Entscheidungen nicht-chronologisch. Was in anderen Filmen oftmals den Erzählrhythmus hemmt, ist hier keine Spielerei, sondern eine Eskalation der Spannung. Produktive Irritation heißt das dramaturgische Mittel. Der Zuschauer stolpert über Geschehnisse, die erst mal verwunderlich sind. Aber man ahnt, dass es einen plausiblen Zusammenhang gibt und will ihn erschließen. Der Zuschauer wird zum Mitdenken und Mitfiebern animiert. Besser kann man es nicht machen. Immer wieder finden die Filmemacher überzeugende Lösungen auf die dramaturgische Kardinalfrage: Was ist in der jeweiligen Spielanordnung das Schlimmstmögliche für die Protagonisten? So unterhält sich Charles mit seinem ältesten Sohn Andy bei der Beerdigungsfeier und entschuldigt sich bei ihm, dass er nicht der Vater war, den dieser sich gewünscht hat. Diese Bitte um Verzeihung zieht Andy angesichts der von ihm verschuldeten Umstände förmlich die Schuhe aus. Keine Vorhaltungen oder Streitereien hätte eine derart niederschmetternde Wirkung erzielen können wie die Entschuldigung für begangene Fehler. Später weint Andy neben seiner Frau: „Das ist nicht fair. Man kann nicht alles ungeschehen machen.“

Auch zwischenzeitlich auftretende Schwachpunkte nutzt die grandiose Drehbuchautorin Kelly Masterson zur erzählerischen Optimierung. Denn Bobbys Ehefrau könnte Hank identifizieren. Diese offene Frage wird gelöst, indem die Ehefrau zusammen mit ihrem Bruder Hank erpresst: Ihr Stillschweigen soll 10.000 Dollar kosten. Eine unerschwingliche Summe für die beiden Brüder, denen das Wasser schon längst nicht mehr nur bis zum Hals steht. Deshalb ist Andys Griff zum Revolver ein nachvollziehbarer Ausweg, zumal ihm auch noch die Steuerfahndung dicht auf den Fersen ist. Doch auch der Versuch, lästige Zeugen zu beseitigen, gerät zum Fiasko. Ähnlich wie beim Überfall im Juwelierladen wird der abgelenkte Täter (Andy) von der überfallenen Frau (Bobbys Ehefrau) erschossen. So erleidet Andy das Schicksal seiner Mutter und landet schwerverletzt auf der Intensivstation. Charles, der mittlerweile hinter die Zusammenhänge gekommen ist, schleicht sich ins Krankenzimmer und schaltet – nach Andys Beichte – die lebenserhaltenden Geräte ab. Zusätzlich erstickt er seinen Sohn mit einem Kopfkissen. Damit ist das Drama komplett.

Nicht ganz. Es gibt doch einen Schwachpunkt: Charles weiß, dass auch sein Lieblingssohn Hank die Finger mit im Spiel hatte. Diese fällige Konfrontation spart der Film aus. Das ist schade, aber nur eine kleine Trübung dieses dramatischen Meisterwerks. Es ist einer dieser Filme, nach denen man Hegels Erkenntnis („Es ist die Ehre großer Charaktere schuldig zu sein“) verstehen kann.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 7 blaue Smileys für "Tödliche Entscheidung"
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West Side Story (Steven Spielberg)

Was veranlasst einen Könner wie Steven Spielberg, ein angestaubtes Musical wie „West Side Story“, das wahrscheinlich jeder zweite Erwachsene in irgendeiner Form schon mal gesehen hat, neu zu verfilmen? Das hätte nur bei einer zeitgemäßen Variation Sinn gemacht. Leider hält Spielberg sich eng an die Vorlage und deportiert Tanz und Gesangszenen im 50er-Jahre-Look auf die Leinwand. Dort können sie ihre Wirkung aber nicht so entfalten wie auf der Bühne. Im Kino wirken sie wie ein Fremdkörper und bremsen die dramatische Erzählung aus. Die behandelt immerhin ein klassisches Erzählmotiv, nämlich „Die Unmögliche Liebe“.

Es gibt tolle Kamerafahrten, eine visuelle Montage, alles sehr ästhetisch, auch der Dreck und das Blut. Schöne Menschen singen und tanzen in künstlicher Kulisse. Alles sorgt für Distanz, vor allem die werkgetreue Umsetzung der Vorlage. Ethnische Konflikte zwischen einer weißen Jugendbande und Puertoricanern mögen vor 70 Jahren eine Rolle gespielt haben? Aber heute?

Warum überträgt Spielberg die Konflikte zwischen Jets und Sharks nicht auf die Gegenwart? Wieso keine Liebesgeschichte zwischen einem schwarzen Jungen und einem weißen Mädchen? Warum diese infantile Liebe-auf-den-ersten-Blick-Begegnung? Alle Entscheidungen Spielbergs tragen zur unglaublichen Künstlichkeit dieses Rührstücks bei. Es hat den Anschein als würde hier ein Altmeister seinen nostalgischen, sentimentalen Erinnerungen frönen. Nichts mehr zu spüren von der Kraft früherer Thriller wie „Duell“ oder „Der weiße Hai“. Die Bezeichnung „Rührstück“ hat dieser Film eigentlich gar nicht verdient, denn die hat ja etwas mit emotionalen Reaktionen zu tun. In „West Side Story“ bleiben leider alle Augen trocken. Trotz der Dramatik, die eigentlich in der Liebesgeschichte steckt, entsteht zu keiner Zeit Spannung, Emotionen nur ein einziges Mal: Man ärgert sich über die Spieldauer von über zweieinhalb Stunden!

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 2 blaue Smileys und 5 schwarze traurige Gesichter für "West Side Story"
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Der Tod und das Mädchen (Roman Polanski)

Dieser spannende Psychothriller ist zugleich das intelligenteste Rachedrama der Filmgeschichte. Es beruht auf einer starken Vorlage des chilenischen Autors und Literaturprofessors Ariel Dorfman. Sein Theaterstück „Der Tod und das Mädchen“ ist auch eine Metapher über Missbrauch und Leid, über Täter und Opfer. Alles passiert in einer Nacht in einem einsam gelegenen Landhaus. Die Vorgeschichte ist zu Zeiten einer südamerikanischen Militärdiktatur angesiedelt, in der politische Gegner misshandelt und gefoltert wurden. So auch die Protagonistin Paulina Escobar, herausragend gespielt von Sigourney Weaver. Nicht minder exzellent ist das Schauspiel der männlichen Figuren, ihres Ehemannes, des Rechtsanwalts Gerardo Escobar (Stuart Wilson) sowie des Folterers, des Arztes Dr. Roberto Miranda (Ben Kingsley).

Das Theaterstück war als Vorlage geradezu prädestiniert für Roman Polanski, der – auch aufgrund eigener Erfahrungen im Krakauer Ghetto – wie kaum ein anderer die Traumata, die klaustrophobische Enge und die bedrohliche Atmosphäre in Szene setzen konnte.
Von Beginn an geht es zur Sache. Beim ersten verdächtigen Geräusch greift Paulina zur Pistole, die sie bis zum Schluss nicht mehr loslässt. Die Bedrohung ist allgegenwärtig. Wie ein gehetztes Tier geistert Paulina durch ihre Umgebung, um die Dämonen der Vergangenheit abzuschütteln. „Was ist mit den Lebenden?“, fragt sie anklagend ihren Mann, der gerade zum Vorsitzenden einer Regierungskommission zur Aufarbeitung von getöteten Oppositionellen berufen worden ist. Einer, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hat, ist ihr Folterer Dr. Miranda. Zufällig hilft er Gerardo bei einer Wagenpanne und taucht im Landhaus auf. Paulina erkennt ihren Peiniger an seiner Stimme und seinem Geruch. Mit der Pistole in der Hand dreht sie nicht einfach den Spieß um – das wäre zu plump -, sondern stellt ihm ein Ultimatum: Entweder er legt ein Geständnis ab oder er stirbt. Eine Deadline – um 6 Uhr morgens erscheinen die Personenschützer – eskaliert den Druck.

Patricia Highsmith hat einmal postuliert, dass eine gute Geschichte so nahe wie möglich vor ihrem Ende anfangen sollte. Der dramatische Ertrag dieser klugen Erkenntnis wird hier beispielhaft demonstriert. Eine Nacht – nicht mehr und nicht weniger – dient der Enthüllung grausamer Taten und Qualen. Dafür werden keine Folter- oder Missbrauchsszenen benötigt. Alles spielt sich in den Köpfen, Gesichtern und Handlungen der drei Protagonisten ab. Reactionshots, denn „Movies are not action. They are reaction.“ (so der US-amerikanische Drehbuchautor Dudley Nichols). Die Dialoge sind schonungslos. Es ist die Nacht der Wahrheit.

Bis zum Schluss versucht Gerardo – ganz Anwalt – die Schuld Dr. Mirandas anzuzweifeln, womit Paulina ganz auf sich allein gestellt ist. Dramaturgisch vorbildlich. Auch ein angebliches Alibi kann oder will Gerardo nicht als Fälschung identifizieren. Dafür benötigt es dieses geniale Ende: Paulina steht mit dem gefesselten Dr. Miranda und ihrem Mann auf dem Felsen, von dem sie zuvor schon den Wagen ihres Peinigers in die Tiefe gestürzt hat. Erst jetzt, angesichts des Todes und der aufwühlenden Nacht, gesteht Miranda seine Vergewaltigungen und Misshandlungen. Jetzt ist es ein echtes Eingeständnis. Deshalb befreit Paulina ihn von den Fesseln, was auch zugleich – zumindest ein Stück weit – eine Befreiung für sie ist. Sein Tod hätte ihr keine Erleichterung gebracht. Da auch Gerardo den Folterer seiner Frau nicht in den Abgrund stürzt und Dr. Miranda nicht den Mut für einen Selbstmord aufbringt, erwartet ihn das schlimmstmögliche Ende: das Weiterleben unter dem Eingeständnis seiner Taten.

Das verdeutlicht auch die Schlußszene in der Oper. Während Paulina wieder in der Lage ist Schubert zu hören („Der Tod und das Mädchen“) – die musikalische Untermalung während ihrer Folterungen – und sich den Darbietungen auf der Bühne widmet, starrt Dr. Miranda von seiner Loge auf sein ehemaliges Opfer herab. Jetzt ist er das gehetzte Tier und er wird es Zeit seines Lebens bleiben. Ein geniales Drama, das Hoffnung macht.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 7 blaue Smileys für "Der Tod und das Mädchen"
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Promising Young Woman (Emerald Fennell)

Nach zwei Jahren mal wieder im Kino gewesen. Nach ca. acht unterirdisch schlechten Werbespots dann dieses Alle-Männer-Sind-Schweine-Rachedrama.
Gut ist die Konzentration auf ein klassisches Erzählmotiv und auf eine interessante Protagonistin, der 30-jährigen Cassandra „Cassie“ Thomas. Es gibt keinen multiperspektivischen Unfug und einige sehr schöne Dialoge. Es gibt ein, zwei intelligente Racheaktionen wie zum Beispiel Cassies Besuch bei der Dekanin der Hochschule. Vor allem gibt es eine Entwicklung, die der psychopathischen Heldin gegönnt wird. Das ist ihre Beziehung und aufkeimende Liebe zum Kinderarzt Ryan. Das sind die schönsten Momente von „Promising Young Woman“, in denen Cassie es zu gelingen scheint, ihre krankhaften Racheplänen und ihr Trauma allmählich zu überwinden.

Leider sind Cassies Racheaktionen nicht sonderlich intelligent. Man fragt sich auch, warum sie ihren Hass regelmäßig an unbeteiligten Männern auslässt, die sie in unterschiedlichen Bars aufgabelt? Was soll das? Warum konzentriert sie sich nicht auf die Beteiligten der sieben Jahre zurückliegenden Massenvergewaltigung? Ein Studium bei Alexandre Dumas „Der Graf von Monte Christo“, dem Prototyp einer Rachegeschichte, wäre konstruktiver gewesen als sich an Stig Larssons „Verblendung“ zu bedienen, in dem die Heldin Lisbeth Salander ihren Vergewaltiger tätowiert.

Die diesjährigen Oscar-Preisverleihungen waren offensichtlich ein Triumph guter Absichten und besserer Menschen, aber schlechter (Nomadland) bis mäßiger (Promising Young Woman) Filme. Da geht es eben nicht um profane Dinge wie glaubhafte polizeiliche Ermittlungsarbeit oder die Handlungslogik einer Backstory. Hier geht es um Größeres, um gesellschaftspolitische Zusammenhänge, pratriarchalische Unterdrückung, Sexismus, MeToo usw. Eine kleine, scheinbar unbedeutende Szene demonstriert die selbstgerechte Moral der Filmemacherin. Als Cassie den Verteidiger des Vergewaltigers Al Monroe heimsucht, bittet der sie um Vergebung. Abgesehen davon, dass man diesem abgefeimten Anwalt die zur Schau getragene Reue nicht abnimmt, hören wir Cassie antworten: „Ich vergebe Ihnen!“ Tja, das ist ja plötzlich sehr großherzig, richtig christlich, kann man da nur sagen. In Tony Scotts Rachethriller „Man on Fire“ antwortet der Held auf die selbe Bitte: „Vergeben kann nur Gott. Ich stelle nur den Kontakt her.“

Das ist leider nicht der einzige Moment, in dem Cassie von ihrer Autorin denunziert wird. Die will uns weismachen, dass ein Typ wie Ryan bei der vor sieben Jahren stattgefundenen Massenvergewaltigung anwesend war. Sorry, aber da ist er nicht der Typ für, und selbst wenn man diese Möglichkeit einmal durchspielt, dann ist er immer noch nicht der Typ, der das verdrängt hätte. Das ist ein weiteres Problem dieses Films, die Eindimensionalität praktisch aller männlichen Figuren. Und immer, wenn sie mal durchbrochen werden soll (Verteidiger), funktioniert’s nicht.

Noch schwerwiegender ist die Wiederaufnahme von Cassies Rachefeldzug. Da wird im wahrsten Sinne des Wortes alles geopfert: die Heldin, die Geschichte. Wenn man so etwas macht, dann muss dieses Opfer auch eine Lösung sein, am besten die einzige, so wie es zum Beispiel Clint Eastwood in „Gran Torino“ demonstriert hat. In „Promising Young Woman“ werden wir Zeugen stümperhafter Vorbereitungen: Der Vergewaltiger Al Monroe wird nur an den Händen ans Bett gefesselt, nicht an den Beinen! Dann kann er sich auch noch aus einer Handfessel befreien und die Heldin nach einem quälenden, minutenlangem Kampf erwürgen.

Weiter sollen wir schlucken, dass sie vorsorglich belastendes Material an den Verteidiger geschickt hat, das zur Festnahme wegen Mordverdachts gegen Al Monroe führt. Was sollen denn das für Beweise sein? Doch nicht etwa dieses ominöse, sieben Jahre alte Video, das doch im übrigen seinerzeit alle Täter und Mitschuldige sofort vernichtet hätten? Wenn überhaupt zeigt es, dass er eine Vergewaltigung begangen hat. Auch der Hinweis auf ihren Aufenthaltsort, die Hütte, in dem die Junggesellen-Abschiedsparty stattfindet, beweist lediglich, dass sie anwesend war. Selbst den Fund ihrer Leiche könnten Al und seine Freunde als Unfall darstellen, was sie ja auch vorhaben. Was also bitte soll denn zur Festnahme von Al führen? Im Grunde würde sich alles wiederholen: Man kann ihm nichts nachweisen. Er würde mal wieder ungeschoren davonkommen. Es ist also keine Rache, sondern Dummheit. Es passt auch überhaupt nicht zur Vorgeschichte, also der Massenvergewaltigung und dem Totschweigen innerhalb eines korrupten Systems.

Die Lösung wäre folgendes gewesen: Cassie verliebt sich in Ryan, wird aber festgenommen und inhaftiert wegen Kindesentführung oder Körperverletzung (glaubhafte Polizeiarbeit). Jetzt könnte der Verteidiger ins Spiel kommen. Seine Reue könnte er durch eine hinterhältige Verteidigungsstrategie beweisen. Jedenfalls erreicht er Cassies Freilassung. Vielleicht gibt Ryan ihr auch ein Alibi? Dann fahren beide gemeinsam zum Showdown, zur Hochzeitsfeier von Al. Dort packen sie ihr Geschenk aus: Eine Leinwand, mit Beamer und Lautsprecher. Dann könnte das aufgehübschte Video von der Vergewaltigung dem Brautpaar und den Hochzeitsgästen vorgeführt werden. Das würde Al’s Karriere nachhaltig ruinieren, seine Ehe und Freundschaften sowieso. Das System würde ihn fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Er würde Vergleichbares erleben wie Cassies Freundin Nina Fisher vor sieben Jahren. Das wäre die Umkehrung des Missbrauchs gewesen, ein intelligenter Racheplan. Aber so werden wir die erste und die letzte halbe Stunde des Films für dumm verkauft. Dazwischen ist der Film teilweise richtig gut.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 3 blaue Smileys und 4 schwarze traurige Gesichter für "Promising Young Woman"
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Magnolia (Paul Thomas Anderson)

Sehr schön sind einige intensive Spielszenen, die Kameraarbeit und die Montage in „Magnolia“, vor allem wenn das Erzähltempo forciert wird. Herausragend ist die darstellerische Leistung von Tom Cruise, der immer dann am stärksten ist, wenn er sich selbst spielt, also einen arroganten Fiesling (s.a. „Collateral“ von Michael Mann).

In verschiedenen Episoden werden hier die Geschichten mehrerer Menschen im San Fernando Valley (Kalifornien) erzählt. Man weiß anfangs nicht so genau, worauf alles hinauslaufen soll und das ist gut (produktive Irritation). Leider weiß man am Ende immer noch nicht, was das alles soll? In seiner Machart erinnert „Magnolia“ an „Short Cuts“ von Robert Altman, der immerhin auf Erzählungen von Raymond Carver basiert, also einem Autor, der sein Handwerk versteht.

Anderson schreibt seine Geschichten natürlich selbst. Das ist das eine Problem, ein anderes die Multiperspektive. Die kann man sich schönreden als „unkonventionell“ oder „modern“, ist aber nichts anderes als eine narrative Sackgasse. Immer wenn sich mal interessante oder berührende Situationen entwickeln, wird man wieder heraus gerissen, wird man sofort mit neuen Handlungen konfrontiert. So als würde der Regisseur seinen eigenen Figuren und Geschichten nicht recht trauen. Da scheint es dann sicherer zu sein, auf eine Vielzahl zu setzen. Frei nach dem Motto: Irgendeine(r) wird’s schon bringen. Das erinnert stark an die Denkweise öffentlich- rechtlicher Fernsehanstalten, was dort als „Ausgewogenheit“ deklariert wird. Aber so wird emotionale Anteilnahme immer wieder im Keim erstickt. Die Multiperspektive erzielt eben nicht die ersehnte Komplexität und Tiefe, sondern exakt das Gegenteil: Man bewegt sich immer schön nahe an der Oberfläche. Eine Tiefe – das ist scheinbar der Anachronismus – erreicht ein Erzähler nur durch eine Fokussierung auf ein oder wenige Protagonisten, die die entsprechenden Eigenschaften mitbringen sollten (s. Punkt 4 „Warum eine TOP 20?“).

Halt, stop! Das ist natürliche eine Pauschalisierung und bedarf der Überprüfung. Unter den TOP 20 befindet sich ein Film, der zwar nicht mit einer Multi- aber mit einer Mehrfachperspektive operiert. Das ist Hitchcocks Meisterwerk „Psycho“. Aber da wird der Zuschauer in die Sorgen und Nöte der Protagonisten eingebunden, vor allem in das Verbotene. Das ist der Punkt. Wir verstehen, warum Marion Crane Grenzen überschreitet und zittern mit ihr mit. Selbst nach ihrem frühen Ableben schafft Hitchcock es, dass wir mit dem nächsten Protagonisten mitzittern und das ist kein Geringerer als der Psychopath Norman Bates. Wir werden hier eben ständig in die Entscheidungsfindung, in die inneren Konflikte der Hauptpersonen eingebunden. Das führt zu einer Synchronisation der Gefühle. Bei Anderson bekommen wir meist Resultate vom Fehlverhalten seiner Figuren präsentiert. Wir werden vor vollendete Tatsachen gestellt. Was bleibt dem Zuschauer anderes übrig als zu sagen: Dumm gelaufen.

In „Magnolia“ sind zudem die angeschnittenen Lebenslügen und das selbstmitleidige Verhalten einiger Protagonisten schwer zu ertragen. Da sind Kinder missbraucht (Claudia), gequält (Stanley) oder im Stich gelassen worden (Frank). Alles ziemlich deprimierend, aber mehr auch nicht. Dass seine Figuren dem Regisseur ziemlich egal sind, erkennt man auch an einem technischen Detail: Die ersten zwei Stunden des viel zu langen Films sind fast permanent mit Musik unterlegt, die so dominant abgemischt ist, dass man die Dialoge nur schwer, manchmal gar nicht verstehen kann. Anderson geht es eben nicht um Verständnis oder Kommunikation mit dem Zuschauer. Dafür ist die Distanz von den höheren Sphären, in denen er schwebt, bis zur Erde zu groß. Er versucht, sich auf Augenhöhe mit Seinesgleichen zu bewegen. Da dreht es sich eben mindestens um Höheres, wenn nicht um Göttliches wie auch das Opening und das Ende veranschaulicht. Da regnet’s Frösche in biblischem Ausmaß und es wird die Existenz von Zufällen in Frage gestellt, demnach alles einer Logik jeweils handelnder Personen folgt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt aufeinandertreffen. So ähnlich hat es aber auch schon Udo Lattek formuliert, als er 1985 doch noch mit Bayern München Deutscher Fußballmeister geworden ist. Nur origineller und vor allem kürzer.

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Der Eissturm (Ang Lee) USA 1997

Schlaglichtartig wird hier das Leben zweier befreundeter Ehepaare mit ihren pubertierenden Kindern beleuchtet. Dank der exzellenten, gleichnamigen Buchvorlage von Rick Moody sowie einer Riege von herausragenden Schauspielern schafft Ang Lee immer wieder Momente von beeindruckender Intensität. „Der Eissturm“ wirft einen gnadenlosen Blick hinter die Fassade bürgerlichen Wohlstands, in dem sich die Erwachsenen auseinander gelebt haben. Die Ehemänner sorgen für das materielle Wohlergehen, die Ehefrauen langweilen sich und flüchten sich in Affären, die heranwachsenden Kinder rebellieren auf ihre Art gegen diese Form der Vernachlässigung. „Warst du weg?“, lautet die Begrüßung des 14-jährigen Mikey als sein Vater nach mehrtägiger Geschäftsreise zurückkehrt. Man hat sich nicht mehr viel zu sagen oder gar zu fragen. Es herrscht Gefühlskälte, visuell eindrucksvoll mit einem Eissturm in Szene gesetzt.

Leider überträgt sich diese Kälte auf den Betrachter. Das Geschehen wirkt wie die Versuchsreihe eines Wissenschaftlers, der das Treiben von Kleinstlebewesen unter dem Mikroskop erforscht. Dieser distanzierte, ständig wechselnde Blick führt letztlich dazu, dass man mit keiner Person richtig mitfühlt. Dass am Ende der Tod eines Kindes für eine vorgebliche Einsicht oder Läuterung der Ehepaare herhalten muss, ist äußerst schwach. Da helfen die späten Tränen der Familienväter dann auch nicht mehr. Hitchcocks Postulat hat eben nichts von seiner Gültigkeit verloren (s. „Warum eine TOP 20?“).

Viel besser wäre es gewesen, was der Film zumindest andeutet, wenn beim finalen Partnertausch auf einer Schlüsselparty letztlich keiner mitgespielt hätte. Wenn alle anstelle eines Seitensprungs wieder beim jeweiligen Partner gelandet wären. Dann hätte die Lösung in den Figuren selbst gelegen und nicht in diesem Deus-ex-machina (plötzlich eintretender, unmotivierter Höhepunkt). Sie wäre glaubhafter und wesentlich stärker gewesen. Sie hätte sich aus der Erkenntnis der Erwachsenen gespeist, dass sich ihre emotionalen Defizite nicht durch Affären beheben lassen, sondern nur durch eine Befriedigung ihrer Sehnsucht nach Zuwendung, Geborgenheit und Liebe.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 5 blaue Smileys und 2 schwarze traurige Gesichter für "Der Eissturm"
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Citizen Kane (Orson Welles) USA 1940

Noch einmal „Citizen Kane“ gesichtet. Der Film hat viele schöne, innovative Ideen zur Inszenierung, Erzählchronologie, Bildkomposition und Montage. Aber leider bleibt es bei diesen formalen Vorzügen. „Citizen Kane“ ist ein typischer Kritikerfilm, bleibt letztlich distanziert, choreografiert wie eine Versuchsanordnung. Die Personen sind einem egal. Es entstehen keine Emotionen.

Eigentlich ist es gar kein Film, der sich am Leben des Zeitungsmagnaten Hearst orientiert. Citizen Kane kümmert sich in erster Linie um Citizen Welles: Ein prophetisches Lebensporträt eines größenwahnsinnigen Regisseurs, der eigentlich vom Theater kommt. So stammt zum Beispiel die Anekdote mit dem Vormund und der Trennung von den Eltern aus dem Leben von Orson Welles und nicht aus dem von William Randolph Hearst. Ansonsten gibt es einige Parallelen: Beide waren Einzelkinder, stets darauf bedacht, sich und anderen ihre Einzigartigkeit zu demonstrieren. Kommerziell war der Film ein Flop und für Welles eigentlich schon der Anfang vom Ende in Hollywood, gemessen an seinen künstlerischen Ambitionen. In einer fundierten Bestenliste hat dieser Film nichts verloren.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 4 blaue Smileys und 3 schwarze traurige Gesichter für "Citizen Kane"
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