Angesichts der zeitgeschichtlichen Umstände kann man die Produktion dieses Meisterwerks als wahres Husarenstück bezeichnen. Unter den argwöhnischen Augen der nationalsozialistischen Besatzer gelang Regisseur Marcel Carné und seinem Drehbuchautor Jacques Prévert gegen Ende des 2. Weltkriegs ein packendes Melodrama. Nach den Auflagen der Nazis durften Spielfilme keine politischen Inhalte haben und nicht in der Gegenwart spielen. Also verlegten die Filmemacher das Geschehen ins Pariser Theatermilieu des 19. Jahrhunderts. Außerdem gelang es ihnen, eine Fülle von Künstlern ins Spielgeschehen zu integrieren, um sie vor einer Deportation ins Arbeitslager zu bewahren. Aus dieser Schutzmaßnahme resultiert das brodelnde Leben auf den Straßen des Films, das einem unentwegten Jahrmarktstrubel gleicht. Aus heutiger Sicht mutet „Kinder des Olymp“ wie ein opulenter Fantasyfilm an, der mit seinem zeitlosen Thema und starken Frauenfiguren gleichzeitig sehr modern wirkt.
Erzählmotiv
Das klassische Erzählmotiv von „Kinder des Olymp“ ist „Die unmögliche Liebe“ („Romeo und Julia“, „Die Brücken am Fluss„, „La Strada“ usw.) Wieso ist ein klassisches Erzählmotiv überhaupt so wichtig? Weil es archaische Erzählstrukturen gibt, die das notwendige dramatische Potenzial für eine funktionierende Geschichte enthalten (s.a. „Stoffe der Weltliteratur“ von Elisabeth Frenzel). Klassische Erzählmotive sind wie Räder, mit denen man ein Gefährt zum Laufen bringen kann. Ohne Räder wird es schwierig, dieses Vehikel zu bewegen.
Die Geschichte
Ein amouröses Sechseck. Weibliche Hauptfigur ist die schöne Garance (Arletty), die gleich von vier Männern umworben wird: Da ist zum einen der draufgängerische, witzige, manchmal auch zynische Schauspieler Frédéric Lemaître (Pierre Brasseur), dann der zwielichtige, kriminelle Möchtegern-Dichter Pierre-Francois Lacenaire (Marcel Herrand), der wohlhabende, arrogante Graf Edouard de Monteray (Louis Salou) sowie der verträumte Pantomime Baptiste Debureau (Jean-Louis Barrault). Komplettiert wird das Sextett durch die Schauspielerin Nathalie (Maria Casarès), die Baptiste abgöttisch liebt und seine Ehefrau wird.
Die erste Begegnung
Tiefere Gefühle empfindet Garance aber nur für Baptiste, der Liebe ihres Lebens. Ihre Aufeinandertreffen ist eine der schönsten Meetingscenes der Filmgeschichte: Baptiste sitzt auf einer Bühne vor dem Théâtre des Funambules. Während sein Vater wortreich das abendliche Stück anpreist, wird einem Zuschauer die Taschenuhr gestohlen. Die unschuldige Garance gerät in Verdacht, steht sie doch genau neben dem Opfer des Diebstahls. Ein herbeigeeilter Polizist verhört den Bestohlenen und Zeugen. Aber der einzige, der den wahren Täter beobachtet hat, ist Baptiste. Der liefert nun mit einer pantomimischen Einlage und zur Erheiterung des Publikums eine Schilderung des Tathergangs. Garance ist zutiefst berührt, hat Baptiste doch nicht nur ihre Unschuld bewiesen, sondern sie auch zum Lachen gebracht und ihre Gefühle geweckt. Auch Baptiste ist von der fremden Schönen fasziniert, die er am Ende im Karnevalstreiben aus den Augen verliert.
Der Traum
Während bei anderen Beispielen dieses Erzählmotivs die äußeren Umstände und Widrigkeiten eine Liebe unmöglich machen, sind es in „Kinder des Olymp“ die inneren Widerstände. Die Liebe zwischen Garance und Baptiste funktioniert nur, weil es ein Kommen und Gehen gibt, weil sie eigentlich gar nicht zusammenkommen können. Die Liebe als Traum. Eine dauerhafte Beziehung würde das Ende dieses Traums bedeuten, was beide zumindest ahnen oder fühlen. Vor allem der träumerische Baptiste personifiziert diese Variante des Erzählmotivs.
Suspense
Immer wieder hat der Zuschauer mehr Informationen als Teile der handelnden Personen. Es gibt bei einer Aufführung im Funambules eine wundervolle pantomimische Szene, in der Baptiste sich aus Liebeskummer mit einem Seil erhängen will. Irgendwann schaut er zur Seite und sieht hinter den Kulissen Garance und Frédéric im vertrauten Tête-à-tête. Sein Gesicht erstarrt. Nur der Zuschauer und seine Ehefrau Nathalie werden Zeuge seiner wahren Gefühle. Später vertraut der Kleiderhändler Jericho Nathalie an, dass ihre Rivalin wieder nach Paris zurückgekehrt ist. Wir wissen es vor den Liebenden, womit die Spannung geschürt wird.
Die Dialoge
Geredet wird viel und manchmal etwas theatralisch. Aber wenn man sich auf dieses Stilmittel eingelassen hat – immerhin befinden wir uns im Theatermilieu -, dann geht es zur Sache. Die Dialoge sind schonungslos, ehrlich, manchmal auch doppeldeutig oder sarkastisch, aber nie langweilig. „Wenn du mich lieben würdest, würdest du nicht so viel Witze machen“, bringt Garance ihr Verhältnis zu Frédéric auf den Punkt. Später belehrt sie Baptiste: „Liebe ist doch so einfach“, um dann bis zum Ende exakt das Gegenteil zu praktizieren. Dramatisch ist auch die Szene, als Nathalie ihren Mann zusammen mit Garance, nach einer gemeinsamen Liebesnacht, in der Pension überrascht. Sie könnte zutiefst verletzt einfach fliehen. Aber Carné benutzt diesen Moment zur schonungslosen Konfrontation: „Antworte mir, Baptiste. Hast du wirklich immer an sie gedacht, sogar in der Nacht?“ Sein Schweigen ist beredt. Dann wendet Nathalie sich an Garance: „Sie gehen, man trauert Ihnen nach, aber zu bleiben, das ist etwas anderes.“ Nun hat die Liebhaberin Gelegenheit, Nathalie aufzuklären: „Auch ich war jeden Tag bei ihm.“
Fazit
Das Melodrama ist den mittellosen Zuschauern des damaligen Theaters gewidmet, die auf den billigen Plätzen in den obersten Reihen saßen (französisch: „paradis“). Auch 80 Jahre nach seiner Herstellung hat „Les enfants du paradis“ nichts von seiner emotionalen Kraft eingebüßt. Ganz großes Kino!