„Die Saat des heiligen Feigenbaums“ ist ein über weite Strecken packendes Familiendrama. Es spielt in Teheran zur Zeit der landesweiten Proteste im Zuge der von der Sittenpolizei festgenommenen und in der Haft verstorbenen Kurdin Mahsa Amini. Der Film zeigt eindrucksvoll, was staatliche Repression mit den Menschen macht. Sie sind Gefangene eines brutalen Machtapparats, der jegliche Opposition im Keim erstickt und dabei vor Gewalt nicht zurückschreckt. Zusätzlich wird ein klassisches Erzählmotiv etabliert: der Verdacht. Dieser resultiert aus dem Verschwinden der Dienstwaffe von Ermittlungsrichter Iman, der mit seiner Frau Najmeh sowie den Töchtern Rezvan und Sana in einer kleinen Wohnung lebt. Die Atmosphäre wird zunehmend beklemmender, klaustrophobischer. Auch in den eigenen vier Wänden traut bald niemand mehr dem anderen, außerhalb sowieso nicht mehr. Im Schlussdrittel mutiert das Drama zum Psychothriller.
Stärken
Der Film liefert hautnahe Einblicke in eine fremde, hier repressive Kultur. Sehr schön ist die Konzentration auf die vier Protagonisten, allesamt hervorragende Schauspieler. In den Nahaufnahmen haben wir Gelegenheit, unsere Gefühle zu synchronisieren. Die Konflikte werden vorbildlich eskaliert und dramatisiert. Die Eingeschlossenheit der Familie schafft eine beklemmende Atmosphäre. Ständig werden Geheimnisse ausgetauscht, wird jemand gebeten, nichts zu verraten. Dabei ist der Verrat schon längst Bestandteil des privaten und beruflichen Lebens. Sehr überzeugend wird auch Najmehs Lavieren zwischen Ehemann und Töchtern beschrieben. Bis zum Schluss versucht sie zwischen beiden Lagern zu vermitteln und die Familie zusammen zu halten. Dabei schenken ihre Töchter der Propaganda des Regimes schon längst keinen Glauben mehr. „Alles gelogen“, klärt Rezvan ihren Vater beim gemeinsamen abendlichen Fernsehgucken auf. Überhaupt sind die rebellierenden Töchter ein Highlight des Films. Fassungslos nimmt Iman zur Kenntnis, dass seine Jüngste sich die Haare blau färben und die Fingernägel lackieren will.
Ungereimheiten
Völlig unglaubwürdig ist das Verhalten der ca. 15-jährigen Sana, die den Diebstahl von Imans Dienstwaffe verschweigt. Die würde aber beim ersten moralischen Druck – immerhin steht hier nicht mehr und nicht weniger als die Existenz der Familie auf dem Spiel – wohl in Tränen ausbrechen und gestehen. Ausgespart bleibt auch ihr Tatmotiv. Wieso haben die Töchter bis zur Ernennung ihres Vaters zum Ermittlungsrichter keine blasse Ahnung von dessen beruflicher Tätigkeit? Wieso befinden sich eigentlich Imans Adresse und persönliche Kontaktdaten plötzlich im Internet? Wer steckt hinter dieser Veröffentlichung? Wieso hat Sana am Ende plötzlich elektrotechnische Fähigkeiten und kann in der Dunkelheit mehrere Außenlautsprecher an einen Verstärker anschließen?
Redundanz
Mit fast drei Stunden Länge ist „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ viel zu lang geraten. Immer wieder gibt es Szenen ohne erzählerische Mehrwert. Da wird Iman minutenlang von seiner Frau frisiert. Wiederholt dürfen wir ihm beim An- und Auskleiden oder beim Autofahren zusehen. Da kramt Sana beim Showdown im Nachbarhaus ausgiebig in einer Sammlung von Musikkassetten herum. Das anschließende Katz- und Mausspiel in den Ruinen verlassener Lehmbauten ist artifiziell und überflüssig.
Entwicklungen
Während Najmehs bröckelnde Loyalität gegenüber ihrem Ehemann sehr schön skizziert wird, gerät Imans Entwicklung zum Psychopathen ziemlich unglaubwürdig. Das ist schon eine Mutation, die zuvor durch nichts angedeutet wird. Da hätte seine Wandlung von „Liebes“ zu „Zwing mich nicht, dich zu schlagen“ schon brüchiger gestaltet werden müssen.
Lösungen
Weg mit der Dienstwaffe. Sie dient nur einem Rätselspiel, das die innere Zerrissenheit der Familie transparent machen soll. Mit gutem Grund hatte Alfred Hitchcock Vorbehalte gegenüber derartigen Rätselspielen (Whodunits). Die Zerrissenheit hätte man aber viel intensiver mit Imans innerem Konflikt verdeutlichen können. Sein erster Fall hätte nämlich eine Verurteilung von Rezvans inhaftierter Freundin Sadaf sein können. Dieser innere Konflikt wäre vergleichbar gewesen mit Justin Kemps Zwiespalt in Clint Eastwoods „Juror #2“: Unterzeichnet Iman das Todesurteil für Sadaf, verrät er seine Prinzipien und macht sich schuldig am Tod eines unschuldigen Menschen. Andererseits gefährdet er die Existenz seiner geliebten Familie. Das wäre das größtmögliche Drama gewesen. Das hätte Rasulof durchspielen müssen: Der Vater, der die Freundin seiner Tochter auf dem Gewissen hat.
Drama
Diesem Drama hätte auch eine Hoffnung innegewohnt. Iman hätte nämlich beim nächsten von der Staatsanwaltschaft eingefordertem Todesurteil seine Unterschrift verweigern können. Das hätte mindestens seine Entlassung zur Folge gehabt. Er hätte dann seine Familie mit einem Brotjob durchbringen müssen. Seine für hiesige Verhältnisse verwöhnten Frauen hätten dann ein bisschen kürzer treten müssen. Das wäre aber okay gewesen, denn schließlich haben sie seine zweifelhaften beruflichen Tätigkeiten jahrzehntelang stillschweigend mitgetragen. Dieser Neuanfang wäre auch eine Chance gewesen. Es hätte gezeigt, dass die Handlanger eines brutalen Regimes auch Menschen sind. Insofern ist das Ende von „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ auch ein stückweit verlogen: Er simplifiziert und glorifiziert den Kampf der Frauen gegen ihren Unterdrücker, ohne Lösungen aufzuzeigen.
Fazit
Insgesamt hat Mohammad Rasulof ein spannendes Familiendrama erzählt, aber dabei viel Potenzial verschenkt. Ein Ärgernis sind die Überlänge und die handwerklichen Defizite.
