Anora (Sean Baker) USA 2024

Endlich mal wieder ein Oscargewinner, der es verdient hat. „Anora“ ist eine moderne Aschenputtel-Variante, wobei sich der Prinz hier als vergnügungssüchtiger Schnösel entpuppt und seine Eltern als russische Oligarchen, also Mafiosi. Ein großer Vorteil ist auch, dass hier eine ganz einfache Geschichte erzählt wird, ohne Schnickschnack. Die Tragikomödie ist im Stile eines Dokumentarfilms gedreht, authentisch, packend und ganz nah dran an seiner herausragenden Hauptdarstellerin. „Anora“ hat Witz, Spannung, gute Dialoge, eine exzellente Kameraarbeit und ist gekonnt inszeniert.

Heldin

Star des Films ist die 23-jährige Anora, oder Ani wie sie genannt werden möchte. Sie arbeitet als Stripperin in einem Nachtclub. Manchmal gibt es spezielle Wünsche, wie die des jungen Ivan, die es dann zu erfüllen gilt.
Ani ist die Ambivalenz in Person: Sie ist charmant und rotzfrech, naiv und schlau, romantisch und renitent, lieb und kämpferisch, prollig und weltgewandt. Ihr Fluchen und ihre Naivität haben etwas Sympathisches. „Freut mich, Sie endlich kennenzulernen“, begrüßt sie Ivans Mutter, die Ani wie Luft behandelt. Einmal begehrt sie auf und droht der Oligarchin mit einem Anwalt, um ihre Rechte als Ehefrau einzuklagen. Die Reaktion lässt sie verstummen. Ani ist nicht blöd. Sie begreift sofort, dass diese Leute nicht zögern würden, ihr Leben zu zerstören. Sie handelt noch nicht mal ihre Abfindung von 10.000 Dollar in die Höhe. Sonst hat Ani immer gehandelt, bei ihrem Honorar, ihrem Ehering. Aber da war es etwas Spielerisches. Jetzt nicht mehr. Auch Ivan holt Ani unsanft aus ihren Träumen, als er die gemeinsame Zeit lapidar zusammenfasst: „Wir hatten Spaß“, und später, um sie vollends auf den Boden der Tatsachen zu holen: „Bist du blöd?“ 

Figuren

Auch alle anderen Figuren sind herausragend besetzt. Der pubertierende Ivan, der den Akt nur als hektische Kopulationsnummer kennt und anschließend seine Playstation traktiert. Alles, was seine „Freunde“ später bei der Suche nach ihm sagen können: „ Der macht gute Partys“. Die beiden Handlanger des Oligarchen, Igor und Garnick, haben so gar nichts mit den gängigen Klischees von russischen Gangstern gemein. Patenonkel Toros, Ivans Aufpasser, der zur Tarnung als russisch-orthodoxer Priester arbeitet, klärt Ani auf: „Ivan ist noch ein Kind“ und „Ich hab’ kein Instagram. Ich bin ein Erwachsener“. Igor entwickelt im Laufe des Geschehens echte Zuneigung für Ani. Nach der Annullierung der Ehe lässt er sich zu folgender Bemerkung hinreißen: „Ich finde, Ivan sollte sich entschuldigen.“ Das ist mutig, auch wenn er sofort wieder in die Schranken gewiesen wird.

Oligarchen

Die entschuldigen sich natürlich nicht. Überhaupt ist die Darstellung der Superreichen sehr stimmig. Im Privatjet kommen sie angedüst, um den Müll wegzuräumen, den ihr Filius angehäuft hat. Dafür machen sie sich nicht ihre Finger schmutzig. Dafür haben sie ihre Leute. Beim Verlassen der Villa mit teilweise demolierter Inneneinrichtung steckt Toros den Putzfrauen ein paar Extra-Scheine zu: „Bisschen unordentlicher als sonst“. So läuft das. Mit Geld kann man den Dreck schnell und effektiv beseitigen. Aber eben nicht alles. Die Probleme mit ihrem pubertierenden Jüngling sind eben ganz irdischer Natur. Da hilft auch kein Reichtum. Hilfsbereitschaft oder Zärtlichkeit hat keinen Platz in dieser Welt. Nicht bei den Reichen. Die gibt es außerhalb, zum Beispiel als Igor nach der Annullierung der Ehe Ani wieder nach Hause begleitet. Da legt er im Flugzeug eine Decke über die Schlafende. Bei all dem spürt man: Sean Baker hat eine Liebe für seine Figuren und ihre Marotten – für alle und das ist schön.

Erwartungshaltung

Jeder Zuschauer hat (ab einem gewissen Alter) hunderte, tausende Filme gesehen und sozusagen auf seiner inneren Festplatte abgespeichert. Szenen mit Wiedererkennungswert werden automatisch mit dem Speichermaterial abgeglichen. Bei einer Übereinstimmung wird die Erwartung des Zuschauers bestätigt. Wiederholt sich dieser Vorgang, dann tritt – genau – Langeweile ein. Überraschungen sind eben ein wichtiger Baustein der Dramaturgie. Beispiel: Aus den eher einfach gestrickten Thrillern „John Wick“ oder „The Equalizer“ kennen wir russische Mafiosi, d.h. wir glauben sie zu kennen. Sie werden uns präsentiert als tätowierte, Wodka trinkende, unterbelichtete, brutale Schläger und wir sind meist froh, wenn sie auf der Strecke bleiben. Ist ja nicht schade um sie. Es sind Abziehbilder. In „Anora“ sind alle Mafiosi konsequent gegen den Strich gebürstet. Das ist zum einen glaubhafter und auch überraschender, also dramatischer. Desgleichen Anis Arbeitgeber, als sie ihm mitteilt, außerplanmäßig eine Woche Urlaub zu nehmen. Der ist zwar nicht begeistert, lässt sie aber bereitwillig ziehen. Auch das ist überraschend, zumal in diesem Milieu.

Gewalt

In einem Interview moniert Sean Baker die Bereitschaft, Gewalt im Gegensatz zur Sexualität in der filmischen Darstellung bereitwillig zu akzeptieren. Das mag auch dominant ein amerikanisches Problem sein (Puritanismus)? Aber er hat recht. Wie viele Filme mit der Darstellung exzessiver Gewalttaten gibt es im Vergleich mit denen lustvoller Sexualität? In jedem Fall dominiert die Gewalt. Nicht so in „Anora“. Auch in diesem Punkt wird die Erwartungshaltung immer wieder durchbrochen. Ständig erwarten oder befürchten wir, dass die russischen Kettenhunde endlich mal zuschnappen. Pustekuchen.

Einmal wird Ani von Igor und Garnick gefesselt. Aber das ist eher eine Slapstickszene. Dann demoliert Igor die Inneneinrichtung eines Geschäfts, aber ansonsten ist es Anora, die zuschlägt und zum Beispiel Garnick mit einem Fußtritt die Nase bricht. Später liefert sie sich noch eine Prügelei mit einer eifersüchtigen Kollegin. Aber die Mafiosi verhalten sich konträr zu unseren Erwartungen, gerade die, die sich die Finger schmutzig machen könnten oder sollten. Die sind beschwichtigend, vergleichsweise zurückhaltend oder auch hilfsbereit (Igor). Sie haben ja auch ganz andere Möglichkeiten, ihre Ziele durchzusetzen. „Anora“ ist gewissermaßen ein Anti-Tarrantino.

Dramaturgie

Die Hindernisse sind alltäglicher Natur. Es ist die Mitbewohnerin, die morgens in Anis Zimmer platzt, sie weckt und nach der Milch fragt. Garnick, der sich in Toros Wagen nach seinem Nasenbruch übergeben muss. Der Abschleppwagen, der Toros Wagen bei ihrer Suche nach Ivan schon am Haken hat. Dabei verleihen die sich ständig überlappenden Dialoge und Aktionen dem Film eine unglaubliche dramatische Dichte. Es steckt sehr viel drin. Man muss sich schon konzentrieren. Auch das ist gut, sehr gut.

Schwachpunkt

Singular. Es gibt nur einen, aber einen gravierenden: Das erste Drittel ist viel zu lang. Irgendwann wird das Partyleben öde. Das ist ganz amüsant und interessant, aber nicht 30 Minuten. Auch hier bewahrheitet sich Patricias Highsmiths Postulat: „Eine gute Story beginnt so nahe wie möglich vor ihrem Ende“. Also die Hochzeit und das Eintreffen der Antagonisten müssten eher platziert werden. Es ist ja auch nicht so, dass hier eine große Liebesgeschichte erzählt wird. Die Begegnung zwischen Ani und Ivan hat von Anfang an etwas Flüchtiges. Eigentlich hat sie kein Fundament und keine Zukunft, auch wenn sie sich mögen. Hier geht es ja nicht um die Liebe des Lebens, wie etwa in „Die Brücken am Fluss“ von Clint Eastwood. Ein Grund mehr, eher zu Potte zu kommen.

Finale

Am Ende ist Anora wieder da, wo sie hergekommen ist. Alles ist wieder an seinem Platz. Ihre Koffer stehen wieder vor ihrem Wohnhaus. Auch mit Igor wird es keine Zukunft geben, obwohl sie beim Abschied von ihren Gefühlen übermannt wird und beim Quickie in seinem Wagen weinend auf ihm zusammenbricht. Jetzt fällt die ganze Anspannung von ihr ab. Das Resultat ihrer einwöchigen emotionalen Achterbahnfahrt. 

Fazit

Der Film ist witzig, unterhaltsam, spannend, interessant, erhellend, wirkt nach – kurz: „Anora“ macht einfach Spaß! Großes Kino!!

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für Anora.

Neue Filme & Bücher
bei Media-Dealer + jpc

4K bei Media-Dealer: 33,97 Euro

Farbiges Cover eines 4K Datenträgers von Sean Bakers "Anora".

Blu-ray bei jpc: 14,99 Euro

Farbiges Cover einer Blu-ray von Sean Bakers "Anora".

DVD bei jpc: 12,99 Euro

Farbiges Cover einer DVD von Sean Bakers "Anora".

Schreibe einen Kommentar