„Begegnung“ ist ein konzentriertes, schnörkelloses Melodrama, das zu David Leans besten Filmen zählt, bevor er mit ausschweifender Opulenz („Reise nach Indien“) und hemmungsloser Gigantomanie („Lawrence von Arabien“) auf Abwege geriet. Der Film beruht auf einem Theaterstück von Noël Coward, der auch am Drehbuch beteiligt war und behandelt ein klassisches Erzählmotiv: Die unmögliche Liebe. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Laura Jesson (grandios: Celia Johnson), die verheiratet ist, zwei Kinder und eine Affäre hat. Die innere Stimme der Protagonistin verleiht dem Film etwas Literarisches und gewährt tiefe Einblicke in ihr Seelenleben. Auch 80 Jahre nach seiner Entstehung hat dieses Liebesdrama etwas sehr Modernes. Das liegt zum einen natürlich an der weiblichen Perspektive, sich in jener Zeit auf etwas einzulassen, was gegen gesellschaftliche Konventionen verstieß. Zum anderen an der Machart, an der Erzählweise, der Montage, der Kameraarbeit mit Traumsequenzen und ungewöhnlichen Nahaufnahmen sowie der Filmmusik.
Suspense
Laura, Ehefrau und Mutter, erlebt etwas, was sie sich nie hätte vorstellen können: Sie verliebt sich in einen anderen Mann. Dieses Geheimnis belastet und quält sie. Laura wünscht sich eine Freundin, der sie alles anvertrauen könnte. Hat sie aber nicht. Im Grunde wäre ihr Ehemann, der gutmütige und großzügige Fred, der einzige, dem sie von ihrer großen Liebe erzählen könnte. Aber das tut sie natürlich nicht, um ihn nicht zu verletzen. Einmal, ganz am Anfang ihrer Affäre, erzählt sie Fred beiläufig von ihrer Begegnung mit einem fremden Mann. Das ist Alec, der später ihr Geliebter wird. Aber Fred scheint nicht richtig zuzuhören, ist mit anderen Dingen beschäftigt. Vielleicht will er auch lieber nichts davon hören. Jedenfalls hakt er nicht nach, stellt keine Fragen. Wem soll Laura also ihren Zwiespalt anvertrauen? Richtig, den Zuschauern. Das ist genial gemacht. Das ist Suspense! Das sorgt für Spannung.
Die Liebe
Einmal in der Woche fährt Laura in die nahegelegene Stadt. Am Bahnhof gerät das Staubkorn einer vorbeifahrenden Lokomotive in ihr Auge. Im Wartesaal hilft ihr der anwesende Arzt Dr. Alec Harvey – der Beginn einer großen Liebe. Es sind Seelenverwandte, die sich hier begegnen und doch keine Chance haben. Auch Alec ist durch Frau und Kindern gebunden. Trotzdem fühlen sich beide so zueinander hingezogen, dass sie sich auf diese „Begegnung“ einlassen. Er hat Humor und macht ihr eine wunderschöne Liebeserklärung, die zeigt, dass er sie als Mensch wahrgenommen hat. Die anfängliche Unbekümmertheit weicht einer unheilvollen Ahnung: „Da bekam ich zum ersten Mal das Gefühl einer drohenden Gefahr.“ Ab diesem Moment zelebriert David Lean die innere Zerrissenheit, die Ausweglosigkeit der Heldin: „Wir werden nie unbeschwert sein“. Aus kleinen Ausreden werden Lügen, aus Sorgen Schuldgefühle, aus drohenden Enttarnungen resultieren Demütigungen. Besser kann man eine Protagonistin eigentlich nicht in die Enge treiben. Die Synchronisation mit ihrer Gefühlswelt lässt uns an ihrer emotionalen Achterbahnfahrt teilhaben. Mehr geht nicht.
Nebenerzählstrang
David Lean kontrastiert das Melodrama mit einer kleinen humorvollen Liebesgeschichte. Während Laura und Alec zunehmend deprimiert im Wartesaal des Bahnhofs nebeneinander sitzen, versucht der charmante Bahnhofsvorsteher sich hartnäckig der bärbeißigen Wirtin anzunähern. Das ist zum einen witzig und sorgt für Leichtigkeit, zum anderen intensiviert der Kontrast die Gefühlswelten der Liebespaare: Je unbeschwerter die Episode im Hintergrund, umso dramatischer die eigentliche Liebesgeschichte.
Form
David Lean hatte vor seinen ersten Filmen als Kameraassistent und Cutter gearbeitet. Das spürt man. „Begegnung“ beginnt mit dem Ende, mit der Trennung. Man sieht Laura und Alec eng beieinander und traurig im Wartesaal des Bahnhofes. Wir wissen noch nicht, warum sie so betrübt sind, aber wir hängen am Haken. Man will eine Antwort auf diese Frage. Produktive Irritation. Dann kommt die Nervensäge, die Quasselstrippe in Gestalt von Dolly. Für die Liebenden das Schlimmstmögliche. Als Laura zu Hause bei Mann und Kindern ist, kommt die Rückblende, die Geschichte. Hätte David Lean den Film chronologisch erzählt, dann wäre erstmal wenig passiert. Die nicht-chronologische Erzählweise ist also keine Attitüde, sie dient dem Spannungsaufbau.
Schwächen
Singular. Es gibt nur einen: Das sind Lauras Kinder oder besser ihre Abwesenheit. Im Grunde tauchen sie nur einmal auf, als die frisch verliebte Laura nach Hause kommt und Sohn Bobby einen Unfall hatte. Sofort wird sie natürlich von Schuldgefühlen übermannt. Das ist hervorragend gemacht und verdeutlicht ihren inneren Zwiespalt. Leider sind im weiteren Verlauf ihre Kinder kein Thema mehr. Das ist aber nicht glaubhaft und auch nicht dramatisch. Ihre existenzielle Frage lautet doch: Entscheide ich mich für die Liebe meines Lebens oder für Ehemann und Kinder. Entweder oder. Beides geht nicht. Da hätte Laura der drohende Verlust ihrer Kinder natürlich das Leben zusätzlich erschwert. Clint Eastwood hat es in seinem Melodrama „Die Brücken am Fluss“ demonstriert. Francesca kann es nicht übers Herz bringen, ihre Kinder zu verlassen. Wenn es „nur“ um den Ehemann ginge, wäre ihre Zwangslage weniger dramatisch, hätte sie sich vielleicht für den Geliebten entschieden. Aber so …
Fazit
Am Ende bleibt alles, wie es ist. Nicht ganz, denn Laura wird sich an jede Minute dieser „Begegnung“ erinnern, an das beglückende genauso wie an das schmerzhafte. Auch Fred zeigt mit seinem Schlusssatz, dass er vielleicht doch nicht so ahnungslos war, wie es den Anschein hat: „Du bist so weit weg gewesen. Danke, dass du zurückgekommen bist“. Ein zeitloses, geniales Melodrama mit einer herausragenden Hauptdarstellerin. Viel besser geht’s nicht.



