Alfred Hitchcock hat mit „Der Fremde im Zug“ einen Roman von Patricia Highsmith nach einem Drehbuch von Raymond Chandler verfilmt. Schon eine illustre Riege, die sich seinerzeit eingefunden hat. Namen und Qualität des Psychothrillers lassen nichts vom Streit zwischen Regisseur und Drehbuchautor ahnen. Tatsächlich war Hitchcock derart unzufrieden, dass er Chandler im Laufe der Vorbereitungen von seinen Aufgaben entbunden hat. Die Arbeit eines Drehbuchautors unterscheidet sich eben fundamental von der eines Krimiautors. Zwei verschiedene Paar Schuhe. „Schuster bleib’ bei deinem Leisten“, war Hitchcocks Resümee dieser Zusammenarbeit. Patricia Highsmith hat sich Zeit ihres Lebens wohlweislich nie an Drehbüchern versucht.
Die Figuren
Aber werfen wir doch mal einen Blick auf Chandlers Charakterisierung des Antagonisten Bruno Antony (Robert Walker): „He wears his expensive clothes with the tweedy nonchalance of a young man who has always had the best.“ Das ist schon super. Mit wenigen Worten erweckt Chandler eine Figur zum Leben. Wir können sie uns vorstellen. Eine gute Charakterisierung handelt eben nicht von Äußerlichkeiten, sondern von Eigenschaften. Überhaupt ist Bruno, der intelligente Soziopath, die mit Abstand stärkste Figur. Sein ständiges Changieren zwischen Rafinesse und Wahnsinn ist schon faszinierend. Das Böse zieht uns eben mehr in den Bann als das Gute, das Langweilige. Zusammen mit seiner Mutter geben sie das Duo Infernale. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Ein weiteres Highlight ist Barbara Morton, die jüngere Tochter des Senators (gespielt von Hitchcocks leibhaftiger Tochter), die stets sagt, was sie denkt. Zum Beispiel vertraut sie ihrer älteren Schwester Anne (Ruth Roman) schon bei den ersten routinemäßigen Ermittlungen gegen Guy Haines (Farley Granger) an, dass sie immer von einem Mann geträumt hat, der ihretwegen einen Mord begeht. Damit schürt sie natürlich den leise keimenden Verdacht ihrer Schwester. Mit diesen drei Figuren demonstriert Alfred Hitchcock, dass er das Spiel (Spielfilm) verstanden hat wie kaum ein anderer: Ein hemmungsloses Lustwandeln zwischen zwischen Gemeinheiten, Abgründen und schwarzem Humor.
Die Geschichte
Die Story um einen „perfekten Mord“ wurde unzählige Male variiert und kopiert und dürfte bekannt sein: Bruno Antony trifft scheinbar zufällig im Zug auf den Tennisspieler Guy Haines. Aus den Klatschspalten weiß er, dass Guy mit der attraktiven Tochter des Senators liiert ist. Leider will dessen Ehefrau sich nicht scheiden lassen. Ein perfektes Opfer für Brunos perfiden Plan: Zwei Morde über Kreuz. Jeder bringt den unliebsamen Verwandten des anderen um. Bei Bruno ist es der verhasste Vater. Guy nimmt den wahnsinnigen Plan erst ernst als Bruno sozusagen in Vorleistung geht, womit er sich mitten im Schlamassel befindet. Soweit die Exposition der Geschichte, die außerdem jede Menge Wendungen und Überraschungen in petto hat.
Visualität
„Der Fremde im Zug“ ist toll fotografiert (Kamera: Robert Burks) und hat für seine Zeit erstaunlich viele Nahaufnahmen. Der Thriller ist mit brillanten Regieeinfälle gespickt, zum Beispiel wenn Bruno beim Tennismatch zuschaut: Hunderte von Augenpaaren wandern von links nach rechts und wieder zurück. Nur Bruno starrt in eine Richtung, nämlich auf sein Opfer. Das ist sein Interesse, nicht das Spiel. Wenn Guy beim finalen Tennismatch in drei Sätzen gewinnen muss, um rechtzeitig am Tatort zu sein, dann wird die Spannung bis zum Exzess retardiert. Immer wieder schneidet Hitchcock zwischen dem Spiel und Brunos Fahrt zum Rummelplatz hin und her. Dort will er nämlich Guys Feuerzeug als belastendes Beweismittel deponieren. Zusätzlich wird dieser Wettlauf mit dem Verlust des Feuerzeugs, das Bruno in einen Gully fallen lässt, gnadenlos auf die Spitze getrieben. Ein Lehrstück in Sachen Suspense.
Schwachpunkte
Es gibt drei Schwachpunkte in „Der Fremde im Zug“. Wenn beim Showdown die beiden Polizisten auf Guy schießen und damit das Karussell beschädigen, sollten sie einen Grund haben. Ein Verdächtiger auf der Flucht ist ein bisschen wenig. Hier wäre eine vermeintliche Notwehrsituation die Lösung gewesen. Dann ergreift Anne viel zu schnell Partei für ihren immerhin in Mordverdacht geratenen Geliebten. Hier hätte man das Drama eskalieren müssen, so wie Hitchcock selber es in „Der Verdacht“ demonstriert hat. Die Freundin, die sich zu allem Übel auch noch gegen ihn wendet, hätte Guys Schwierigkeiten maximiert. Damit sind wir beim dritten Manko. Das ist die Figur des Guy Haines, der gerade im Kontrast zu seinem Gegenspieler doch arg blass wirkt. Ihm mangelt es an Originalität und Schlitzohrigkeit.
Fazit
Insgesamt tun die Schwächen dem Vergnügen keinen Abbruch. Null Punkte auf der Defätismusskala sind ein zusätzlicher Beleg: Pures Kinovergnügen!