„Reptile“ ist ein spannender Genremix aus Krimi und Thriller, der von seiner Story und Atmosphäre her an „L.A. Confidential“ von Curtis Hanson erinnert. Der hat allerdings mit den Cops Bud White und Ed Exley zusätzlich ein explosives Odd-Couple-Paar aufgeboten, während in „Reptile“ Detective Tom Nichols (Benicio del Toro) weitestgehend allein ermittelt. Wieder müssen wir schlucken, dass praktisch das komplette Dezernat einer Polizeieinheit aus Betrügern, Drogenhändlern und Mördern besteht. Das ist schon längst nicht mehr originell. Spätestens bei der Frage des Polizeichefs, „Weiß sonst noch jemand davon?“, erahnt man die tödlichen Konsequenzen einer wahrheitsgemäßen Antwort. Gucken diese Detectives denn keine amerikanischen Krimis?
Die Geschichte
Tom Nichols ermittelt im mysteriösen Mord an einer Immobilienmaklerin. Nacheinander geraten ihr Ex-Mann, der zwielichtige Eli Phillips sowie ihr Freund Will Grady (Justin Timberlake) in Verdacht. Am Ende stellt sich heraus, dass praktisch das komplette Morddezernat in Tateinheit mit Will Grady Häuser beschlagnahmt und sich bereichert hat. Beim Showdown werden drei hochrangige Polizisten erschossen und Will Grady verhaftet. So weit die Story.
Allerdings wirkt das ganze Geschäftsmodell ziemlich konstruiert. Selbst wenn die Polizei Häuser aufgrund von Drogenfunden zunächst beschlagnahmt, dann werden deren Besitzer doch alles versuchen, um wieder an ihr Eigentum zu gelangen. Und irgendwann sind solche Ermittlungen doch abgeschlossen oder verlaufen im Sande. Dann erhalten die rechtmäßigen Besitzer doch ihre Häuser zurück. Das im Film geschilderte Verfahren ist de facto eine Enteignung und mutet – gerade in der Hochburg des Kapitalismus’ – ziemlich unglaubwürdig an.
Dramaturgie
Die Irritationen kommen zuhauf, die Informationen häppchenweise. Das erzeugt erstmal Spannung. Man muss sich schon konzentrieren, um den Ermittlungen folgen zu können. Man weiß auch nicht, wer gut oder böse ist? Das ist geschickt gemacht. Allerdings verliert Regisseur und Autor Singer sich zunehmend im Rätselhaften. Irgendwann werden die produktiven Irritationen zu unproduktiven. Man sucht nach Antworten auf Fragen, bekommt aber keine.
Wer hat denn nun die Maklerin Summer Elsworth getötet? War es der Drogenkurier Rudi Rackozy? War es Detective Wally Finn? Oder war es doch ihr Freund Will Grady? Man kann spekulieren, erhält aber immer noch keine Antworten. Und das ist nicht gut. Warum? Weil es keine Kunst ist, sich ein Rätsel auszudenken und die Lösung zu verheimlichen. Nicht ohne Grund heißt es Knobelspaß. Also, hier übertreibt Singer ein ums andere Mal. Wir werden auch über den Mörder von Eli Phillips im Unklaren gelassen. Will Grady ist zwar anwesend, aber dann kommt noch jemand zur Tür herein, den wir nicht sehen. Wer war das? Ist Eli überhaupt ermordet worden? Dafür gibt es nur ein Indiz, aber keine Gewissheit. So geht das dann munter weiter.
Weitere Ungereimtheiten
Warum wird Captain Allen überhaupt beim Showdown erschossen? Der gehört doch zur Gangsterbande von „The White Fish“. Also, warum töten ihn seine eigenen Leute? Wieso wird Tom Nichols überhaupt mit diesem Mordfall betraut? Wäre doch für Captain Allen und seine Kumpane viel sinnvoller, wenn der Fall sozusagen in der Familie bleibt.
Informationsfluss
Der Film leidet unter einem Überschuss an Rätseln und Mangel an Informationen. Wie könnte man den Informationsfluss verbessern? Dazu Alfred Hitchcock: „Der Zuschauer sollte informiert werden, wann immer es möglich ist.“ So ist es. Man sollte den Zuschauern mit Informationen füttern, ihn zum Geheimnisträger und Komplizen machen. Nur das schafft Suspense. Überraschungen sind schön und gut, wenn sie denn funktionieren, aber was sind sie schon im Vergleich zu Suspense.
Suspense – was ist das?
Kasperletheater. Kasper hält sich im Vordergrund der Bühne auf, während im Hintergrund ein Krokodil auftaucht. Was machen die Kinder? Sie schreien: „Kasper. Pass auf!“ usw. Was macht Kasper (an so einer Stelle zeigen sich die wahren Meister eines kunstgerechten Spannungsaufbaus)? Kasper merkt nichts von der drohender Gefahr. Im ganzen Lärm fragt er die Kinder: „Was habt ihr gesagt?“ Was machen die Kinder? Die schreien natürlich noch lauter als vorher, zumal das Krokodil immer näher kommt. Diese Situation wird bis zum Exzess retardiert. Im allerletzten Moment – das Krokodil hat schon sein riesiges Maul geöffnet – dreht Kasper sich herum und schlägt das „Reptile“ k.o. Die Spannung funktioniert, weil die Kinder mehr Informationen haben als Teile der handelnden Personen (Kasper). Darum geht’s!
Die Form
„Reptile“ ist exzellent gemacht. Die Dialoge sind fragmentarisch, unkorrekt, manchmal hart oder witzig. Die Kameraarbeit, die Inszenierung ist hervorragend. Ein Beispiel: Als Tom Nichols mit seinem Partner Dan Cleary im Haus der Ermordeten nach Spuren sucht, öffnet er irgendwann eine Schranktür mit einem Spiegel. Jetzt sehen wir in der linken Bildhälfte, wie Dan Will Grady nach einer Lebensversicherung der Verstorbenen befragt. In der rechten sehen wir, was Tom an Utensilien aus dem Schrank befördert. Das ist super gemacht. Auch die Filmmusik unterstützt die latent düstere und bedrohliche Grundstimmung. Schade eigentlich, dass Grant Singer seine Rätselspielereien übertrieben hat. Es hätte ein ganz großer Wurf werden können.