Es handelt sich hier um ein herausragendes Krimidrama, in dem Matt Damon in der Rolle des Bohrarbeiters Bill Baker zeigen kann, dass viel mehr in ihm steckt als in Gestalt des Agenten Jason Bourne. Sowohl der Verleiher als auch Wikipedia klassifizieren „Stillwater“ als Thriller. Das ist aber nicht korrekt, denn nicht die Bedrohung für den Helden steht im Fokus, sondern das Familiendrama und die Aufklärung des Mordes, das Bills Tochter Allison zur Last gelegt wird. Damit wird auch ein klassisches Erzählmotiv behandelt, nämlich „Unschuldig Beschuldigt“, das Lieblingsmotiv von Altmeister Alfred Hitchcock. Aber es wird nicht aus der Perspektive der Tochter erzählt, sondern ausschließlich aus der Sicht des Vaters. Somit ist es auch ein „Whodunit“, aber ein geniales.
Die Figuren
Bill bringt alle Voraussetzungen für einen tauglichen Helden mit: Er hat einiges verbockt in seinem Leben. Er war Alkoholiker, vorbestraft – warum, erfahren wir nicht. Bill hat sich nicht wirklich um seine einzige Tochter gekümmert, wahrscheinlich auch nicht um seine Ex-Frau, die sich das Leben genommen hat. Die näheren Umstände erfährt man nicht. Jedenfalls begibt Bill sich auf Wiedergutmachungstour nach Marseille, wo Allison seit vier Jahren wegen angeblichen Mordes an ihrer Ex-Freundin Lina einsitzt. Im Hotel freundet er sich mit seiner Zimmernachbarin, der Theaterschauspielerin Virginie, und ihrer kleinen Tochter Maya an.
Unschuldig Beschuldigt
Beim Besuch im Gefängnis steckt Allison ihrem Vater einen Zettel für ihre Anwältin zu, in dem sie ihre Unschuld beteuert und einen gewissen Akim des Mordes bezichtigt. Sie möchte, dass der Fall neu aufgerollt wird. Die Anwältin zeigt allerdings überhaupt kein Interesse an diesen Informationen, weshalb Bill nun auf eigene Faust ermittelt. Schließlich gelangt er an einen Ex-Polizisten, der sich bereit erklärt, für 12.000 Euro Akims DNA mit den am Tatort gefundenen Spuren zu vergleichen. Bill begibt sich auf die Suche nach dem vermeintlichen Täter. Seiner Tochter versucht er mit einer Notlüge Hoffnung zu machen, indem er vorgibt, dass ihre Anwältin eine Wiederaufnahme des Falls betreibt.
Freundschaft
Hilfe findet Bill bei Virginie und ihrer Tochter, mit denen er sich anfreundet. Insbesondere die Annäherung an die kleine Maya ist sehr schön beschrieben und steht für all das Versäumte, das Bill bei seiner Wiedergutmachung nun bereinigen will. Mit einem Partyfoto sucht Bill in einem arabischen Viertel nach dem Verdächtigen, wobei er zusammen geschlagen wird. Im Gefängnis zeigt Allison sich schockiert über seine Alleingänge und seine Lüge, die sie inzwischen enttarnt hat. Es kommt zum Bruch zwischen Tochter und Vater: „Wehe, du tauchst hier noch mal auf!“
Zeitsprung
Aber Bill denkt gar nicht daran, den Fall auf sich beruhen zu lassen, auch weil er nichts mehr zu verlieren hat. Vier Monate sind vergangen und Bill ist mittlerweile bei Virginie eingezogen. Dort übernimmt er die Rolle eines Hausmannes und kümmert sich liebevoll um die kleine Maya. Geld verdient er auf einer Baustelle. Dann gibt es eine Wendung in der Beziehung zu seiner Tochter, die nach vierjährigem geschlossenen Strafvollzug nun regelmäßigen Freigang erhält. Bill ist ihre einzig erlaubte Begleitperson, was Allison notgedrungen akzeptiert.
Freiheit
Zusammen besuchen beide die Orte, an denen Allison gelebt hat, auch das Grab von Lina. Bei einem Abstecher zur Küste genießt Allison das Bad im Mittelmeer. Bill lädt seine Tochter auch in Virginies Wohnung ein, wo sie sich mit ihr und Maya anfreundet. Später warnt sie Virginie: „Er baut viel Scheiße. Ich weiß es, weil ich auch so bin.“ In derselben Nacht versucht Allison, sich zu erhängen, kann aber gerettet werden. Über ihre Beweggründe kann man momentan nur mutmaßen: War diese Dosis Freiheit zu viel oder liegt es an anderen Gründen?
Liebe
Sehr schön erzählt Tom McCarthy dann auch die Annäherung zwischen Bill und Virginie. Überhaupt nimmt er sich Zeit für seine Figuren, ohne dass jemals ein Hauch von Langeweile entsteht. Und er weiß um das Potenzial von Kontrastierungen. Bohrarbeiter Bill besucht nämlich eine Theaterprobe, in der Virginie auftritt. Den Zusammenprall zweier Welten nutzt McCarthy zur Annäherung zwischen beiden. Aus den Freunden wird ein Liebespaar.
Die Entscheidung
Dramaturgisch fachgerecht wird an dieser Stelle die nächste Wendung vollzogen. Bill besucht mit Maya ein Spiel von Olympique Marseille. In einiger Entfernung kann er gegen Ende des Spiels unter den Zuschauern den gesuchten Akim ausmachen. Bill steht vor einer elementaren Entscheidung: Soll er den vermeintlichen Mörder verfolgen oder die kleine Maya nach Hause bringen? So oder so – einen von beiden wird er verlieren. Bill entscheidet sich für die Verfolgung. Schließlich kann er Akim in einer ruhigen Straße unschädlich machen und ins Auto schleppen, auf dessen Beifahrersitz Maya inzwischen eingeschlafen ist.
Gefängnis
Bill hält Akim in einem Verschlag im Keller des Altbaus gefangen. Dabei versichert er sich Mayas Stillschweigen, womit er die Kleine zur Komplizin macht. Das ist dramaturgisch genial: Mit diesem Missbrauch an Maya versucht er Allisons Unschuld zu beweisen. Man hadert mit ihm und versteht ihn zugleich. Jetzt kann Bill auch dem Ex-Polizisten die DNA-Probe aushändigen, womit er die Kripo allerdings auf seine Fährte lenkt. Bevor es soweit ist, erfährt Bill allerdings noch von seinem Gefangenen, dass er Lina im Auftrag von Allison ermordet hat. Seine Bezahlung: Eine goldene Kette mit der Gravur ihres Heimatortes „Stillwater“.
Schwachpunkt
Singular. Es gibt nur einen. Wenn Akim über mehrere Tage im Keller gefangen gehalten wird, hätte man zur Dramatisierung eine Fluchtsituation durchspielen können oder müssen. Von ihm geht erhebliches Gefahrenpotenzial aus. Seine einzige Chance ist die Flucht und das Untertauchen, was er ohne Rücksicht auf Verluste verfolgen würde. Der schlimmstmögliche Fall wäre eine Geiselnahme und Gefährdung Mayas.
McCarthy hat sich für eine Überraschung entschieden. Als die Polizei den Keller durchsucht, fehlt von Akim keine Spur. Der Zuschauer kann nur spekulieren, wer seine Freilassung veranlasst hat. Es könnte Virginie gewesen sein, aber dann wäre ihr sofort klar geworden, dass Bill ihre Tochter bei der Gefangennahme eines Mörders benutzt hat. Sehr wahrscheinlich hätte sie umgehend die Polizei verständigt und Bill mit diesem Verrat konfrontiert. Kommt eigentlich nur Bill in Frage, der ja von Akim erfahren hat, dass Allison die Anstifterin des Mordes war. Diese Tatumstände würden bei einem Verhör und bei Übereinstimmung der DNA-Proben sofort ans Licht kommen. Also, Bill hat Akim frei gelassen, um seine Tochter zu schützen. Nur diese Variante ergibt einen Sinn. Aber das hätte man deutlich machen müssen.
Finale
Virginie wirft Bill am Ende aus der gemeinsamen Wohnung. Es folgt einer tränenreicher Abschied von Maya. Beide hat er verloren, aber Allison wird nach Wiederaufnahme des Verfahrens auf freien Fuß gesetzt, zumal sie mehrere Jahre ihrer Haftstrafe bereits verbüßt hat. Zurück in „Stillwater“ (Oklahoma) konstatiert Allison, dass hier alles noch genauso aussieht wie früher. Für Bill gilt das nach seiner Wiedergutmachungsreise nicht: „Alles sieht für mich anders aus.“
Fazit
Wie in „Station Agent“ demonstriert Tom McCarthy auch hier sein Talent, skurrile Freundschaften spannend und berührend zu erzählen. In „Stillwater“ wird es zudem noch gewinnbringend mit einem klassischen Erzählmotiv kombiniert. Ganz großes Kino!