„Der Gesang der Flusskrebse“ ist eine märchenhafte Pippi-Langstrumpf-Variante, die im schmalzigen Morast der Sümpfe North Carolinas absäuft. Nach den Verkaufszahlen des gleichnamigen Romans der Zoologin Delia Owens war eine Verfilmung die logische Folge. Die Adaption soll sich angeblich ziemlich eng an die Vorlage halten (Roman habe ich nicht gelesen)? Besser wäre allerdings gewesen, das Potenzial dieses Stoffes auszuloten und sich darauf zu konzentrieren. In „Die Brücken am Fluss“ hat Clint Eastwood zum Beispiel demonstriert, wie man eine triviale Vorlage handwerklich behandelt.
Der Kriminalfall
Im Grunde ist es eine perfekte Ausgangssituation: Chase Andrews, ein junger Mann tot im Sumpf. Unfall oder Verbrechen? Jedenfalls macht es neugierig. Aber die kriminalistischen und juristischen Ermittlungen sind teilweise schon hanebüchen. Protagonistin Kya lebt allein in der Einöde einer Sumpflandschaft. Für die Menschen in der Umgebung ist sie das „Marschmädchen“. Schnell wird die Außenseiterin des Mordes an Chase verdächtigt, mit dem sie eine Affäre hatte. Allerdings existiert nur ein einziges Indiz: Ein roter Wollfaden auf der Jacke des Toten. Der stammt, wie sich herausstellt, von Kyas Mütze. Er könnte sich aber, so der Kriminaltechniker, auch schon seit geraumer Zeit dort befunden haben. Mit anderen Worten: Die Anklage hat nichts, aber auch gar nichts in der Hand. Dieser Sachverhalt steht einem Prozess, bei dem es immerhin um Leben oder Tod geht, nicht im Weg.
Also befinden wir uns in einem rechtsfreien Raum, in einer fiktiven Gesellschaft, aber doch nicht in den USA der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Wer soll das denn glauben? Da wird selbst die Abwesenheit von Fingerabdrücken der Angeklagten zur Last gelegt. Eine Konstruktion jagt die nächste. Ganz zum Schluss wartet der Film noch mit einer Überraschung auf, die zu dem Zeitpunkt auch keine mehr ist. Kya war doch die Täterin. Also, ein heimtückischer Rachemord. Die Selbstjustiz wird mit darwinistischen Überlebensstrategien legitimiert: „Manchmal muss man seinen Jäger töten.“ Die Natur als Zufluchtsort und Lehrmeister. Jedenfalls hat man Verständnis für die Protagonistin, dass sie sich, nach erlittenem Unrecht, nicht diesem seltsamen Rechtsstaat anvertraut.
Erzählmotive
Die Autoren schicken gleich drei Erzählmotive ins Rennen. Klingt erstmal gut. Ist es aber nicht. Es findet keine Konzentration statt und das Potenzial der einzelnen Erzählmotive wird nicht ausgereizt. Zum einen ist es „Unschuldig Beschuldigt“, das Lieblingsmotiv von Altmeister Alfred Hitchcock, das sich hier am Ende als „Schuldig Beschuldigt“ entpuppt. Zum zweiten ist es „Die unmögliche Liebe“ (Romeo und Julia), die hier am Ende aber möglich ist. Zum dritten ist es „Der Verrat“, hier an der Liebe des Lebens, der am Ende keine Konsequenzen hat.
Im hervorragenden Roman „Die Entscheidung“ zeigt Autor Douglas Kennedy zum Beispiel, dass es – trotz gegenseitiger Liebesschwüre – plausible Gründe für ein Verschwinden geben kann. In „Der Gesang der Flusskrebse“ müssen weinerliche, selbstmitleidige Ausflüchte ihrer ehemals großen Liebe als Begründung herhalten. Sie halten Kya zudem nicht von der Wiederaufnahme der Beziehung ab. Die Pointe am Schluss offenbart noch ein viertes Erzählmotiv, nämlich Rache. Aber das wird eigentlich gar nicht behandelt.
Dramaturgie
Zweimal tritt ein Mitarbeiter des Jugendamts in Erscheinung, der Kya in ein Heim einweisen lassen will. Dann wart er nie wieder gesehen. Eine Gefahrenquelle sollte man aber entweder etablieren und dann eskalieren oder entfernen. Überhaupt: Wie kann ein von den Eltern verlassenes 12-jähriges Mädchen in der Einöde überleben? Man sieht Kya ab und zu Muscheln sammeln und verkaufen, aber damit ist es doch nicht getan. Existenzielle und glaubhafte Schwierigkeiten fallen einfach unter den Tisch. Im Roman sollen sie ausführlicher behandelt worden sein?
Das ganze künstliche Ambiente trägt ebenfalls zur Entdramatisierung bei: Alles so niedlich hier in der Villa Kunterbunt. Die märchenhafte Inszenierung ist auch ein Grund, weshalb man nicht mit der Heldin mitzittert. Als Kya zum Beispiel ihr Grundstück im Grundbuchamt eintragen lassen will, sind 800 Dollar Steuern fällig. Eine gewaltige Summe seinerzeit. Was macht sie? Sie schickt ein paar Tierzeichnungen und Texte an einen Verlag und schwuppdiwupp hat sie einen Vertrag und Geld in der Tasche. So läuft das eben – im Märchen. Aber nicht in einer fachgerecht gestalteten Geschichte, in der Realität schon gar nicht.
Figuren
Alle handelnden Personen agieren mehr oder weniger schablonenhaft: Der alkoholsüchtige, brutale Vater; der naturverbundene, hilfsbereite Freund; der eitle, gewalttätige Rivale; der gutherzige, engagierte Anwalt; die verständnisvollen, fürsorglichen Drugstorebesitzer (schwarze Hautfarbe); die verhuschte, rehäugige Heldin, stets im Fluchtmodus vor der feindlichen Umwelt. Immerhin transportiert sie die Ambivalenz zwischen einem Streben nach Zurückgezogenheit und sozialen Kontakten. Eine Synchronisation mit ihren Gefühlen bleibt aber weitestgehend aus. Dafür ist „Der Gesang der Flusskrebse“ zu klischeehaft.