Ist doch nicht so schwer mit der Spannung. Das Thrillerdrama „Juror #2“ ist ein dramaturgisches Lehrstück, routiniert im besten Sinne: Wir haben einen Helden, der Schuld auf sich geladen hat (Hegel) und in maximale Schwierigkeiten gerät (Hitchcock). Dann haben wir noch ein klassisches Erzählmotiv, nämlich „Der Verdacht“, und vor allem Suspense (Highsmith). Vom ersten Verhandlungstag eines Mordprozesses an wird der Zuschauer durch die Flashbacks des Helden Justin Kemp (Nicholas Hoult) mit Informationen gefüttert, die erstmal nur wir mit ihm teilen. So können wir als Mitwisser Gefühle entwickeln und mit dem Helden mitzittern, zumal der Auslöser für das Drama im Grunde jedem passieren könnte: Die Verursachung eines Verkehrsunfalls bei Nacht und strömendem Regen.
Die Geschichte
Konzentriert und schnörkellos erzählt. Grandios. Am Anfang gibt es eine Überblendung von Justitia, die mit verbundenen Augen in jeder Hand eine Waage hält, auf Justins hochschwangere Frau Allison. Die hat ebenfalls ihre Augen verbunden, aber noch spielt sie nicht Justitia. Das kommt erst später. Jetzt bewundert sie erstmal das Kinderzimmer, das Justin liebevoll eingerichtet hat. Im Garten warten Freunde, um mit ihnen dieses Ereignis zu feiern. Das – man ahnt es schon – wird bald ein Ende haben. Denn Justin muss als Geschworener an einem Mordprozess teilnehmen, in dem er selber für das Ableben des Opfers verantwortlich ist. Damit steht er vor einem existenziellen Dilemma: Gesteht er seine Verwicklung in den Unfall, verliert er alles, was er hat. Schweigt er, macht er sich schuldig an der Verurteilung eines Unschuldigen. Besser geht’s nicht.
Das Finale
Allison will keine alleinerziehende Mutter sein. Am Ende hat sie die Rolle der Justitia inne, indem sie bereit ist, die Mitschuld ihres Mannes zu vertuschen. Das hätte ein möglicher Schluss sein können, denn nicht nur sie, auch die anderen Mitwisser von Justins Schuld haben Gründe, ihr Wissen zu verschweigen. Der Anwalt seines Vertrauens, Larry Lasker (Kiefer Sutherland), ist an seine Schweigepflicht gebunden und für die Staatsanwältin Faith Killebrew (hervorragend: Toni Collette) ist die Verurteilung ein Erfolg, wären da nicht ihre aufkeimenden Zweifel. In der Schlusseinstellung erfahren wir, dass sie dafür sorgt, dass die Waage doch noch in die andere Richtung ausschlägt. Justitia hat gesiegt! Aber wäre der Mantel des Schweigens nicht das dramatischere Ende gewesen?
Das Erzählmotiv
„Juror #2“ erzählt eine Variante von „Der Verdacht“, ein Lieblingsmotiv von Altmeister Alfred Hitchcock. Dessen Thriller behandelten oftmals den „Falschen Verdacht“. Hier“ ist es ein zutreffender, der sich in existenziellem Ausmaß gegen den Helden richtet. Also Ermittlungen, die unaufhaltsam ins Verderben führen. Damit behandelt dieser Stoff noch ein weiteres Erzählmotiv, nämlich „Identität“. Also alle Filme von Protagonisten mit Amnesie, die dann auf der Suche nach ihrer verlorenen Identität in ihrer Vergangenheit ermitteln, haben eine vergleichbare dramatische Struktur: Der Erkenntnisdrang, der geradewegs in den Abgrund führt (s.a. „Angel Heart“ von Alan Parker oder „König Ödipus“ von Sophokles).
Druck
Das anfangs skizzierte idyllische Familienleben dient der Fallhöhe, also der dramatischen Eskalation. Je kontrastreicher um so effektiver. Wie der Druck auf den Helden dann sofort eingeläutet und permanent erhöht wird, ist schon vorbildlich. Das anfangs ungute Gefühl des Helden, am Prozess teilzunehmen, entwickelt sich zur puren Verzweiflung. Justins innere Zerrissenheit wird geradezu zelebriert. Man kann sie nicht steigern. Hitchcock hätte seine Freude daran gehabt. Sehr schön auch die Figur des Anwalts Larry Lasker, der bei den Konsultationen immer wieder verheerende juristische Wasserstandsmeldungen abgibt.
Schwächen
Dass ein Geschworener sich in einem Prozess als Täter entpuppt, ist ein Zufall – unwahrscheinlich aber nicht unmöglich. Er ist der Dramatik geschuldet. Der Gerichtsmediziner dürfte und würde sich in der Verhandlung nie und nimmer zu einer Mordtheorie hinreißen lassen, zumal er sie selber kurz zuvor relativiert hat. Diese fahrlässige Diagnose müsste auch ein Pflichtverteidiger im Verhör zerpflücken. Desgleichen dürfte dieser den älteren Zeugen, der den Angeklagten aus einer Entfernung von über 100 Metern identifiziert hat, nicht ungeschoren davonkommen lassen. Nach zwei Drittel der Geschichte gibt es eine Pattsituation bei den 12 Geschworenen. Die Gründe für ein einheitliches „schuldig“ bis zum Ende werden nicht so recht deutlich. Diese Versäumnisse schwächen die Glaubwürdigkeit der Filmhandlung.
Fazit
Es dürfte in der Filmgeschichte wohl einmalig sein, dass ein 94-jähriger ein derart spannendes und konzentriertes Drama hergestellt hat. Anderen Regiegrößen – wie Hitchcock, Kurosawa oder Truffaut – hat man das Alter in ihren Spätwerken deutlich angemerkt. Bei Clint Eastwood bekommt man so langsam den Eindruck, dass er auch nach seiner Beerdigung noch weiter Filme drehen wird. Dann eben Underground-Filme.