„Rachels Hochzeit“ ist ein herausragendes Familiendrama von Jonathan Demme („Das Schweigen der Lämmer“). Es erzählt vom Besuch der ehemaligen drogenabhängigen Kym auf der Hochzeit ihrer Schwester Rachel. Auch hier erweist sich das Prinzip der Einheit von Zeit, Raum und Handlung als großer erzählerischer Vorteil, spielt sich die ganze Geschichte doch innerhalb von drei Tagen auf dem großbürgerlichen Anwesen des Vaters ab.
Die Geschichte
Eigentlich soll es eine harmonische, perfekte Familienfeier werden, zu der Freunde und Familienangehörige zusammenkommen. Leider regnet es und leider ist Kym anwesend, die irgendwie deplatziert wirkt. Wieso, kommt nach und nach zum Vorschein. Kym hat nämlich früher im Vollrausch einen Autounfall verursacht, bei dem ihr jüngerer Bruder Ethan ums Leben kam. Diese Tragödie mit ihren unausgesprochenen Selbstzweifeln, Schuldgefühlen und Vorwürfen überschattet die Hochzeit. Die finale Auseinandersetzung mit der Mutter findet in Kyms Anklage ihren Höhepunkt: „Warum hast du mich damals fahren lassen? Ich war ein vollgedröhnter Junkie.“ Der nachfolgende Schlagabtausch vollzieht sich nicht nur verbal. Als die Mutter auf die Tochter einschlägt, wird die ganze Hilflosigkeit angesichts verdrängter Mitschuld transparent. Das ist die Frage, die auch die anderen Familienmitglieder mit sich herumschleppen und verdrängt haben: Warum habt ihr es zugelassen?
Achterbahn
Als Kym nach diesem Schlagabtausch völlig aufgelöst ins Auto steigt, befürchtet man eine Replik der tragischen Ereignisse, nämlich ihren Unfalltod. Aber auch dieser Vermutung begegnen die Filmemacher mit einer viel besseren Entscheidung: Kym hat zwar einen Unfall, ist genauso ramponiert wie der Wagen, muss aber weiterleben. Ihr Tod wäre keine Lösung gewesen.
Neben all diesen tragischen Elementen sorgen immer wieder skurrile, originelle oder rührende Szenen für ein Wechselbad der Gefühle, zum Beispiel wenn Sidney und Paul einen spielerischen Wettkampf am Geschirrspüler ausführen. Die heitere Stimmung wechselt abrupt, als Paul einen alten Kinderteller von Ethan in den Händen hält. So ist das richtig: Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt. Das Ende hat etwas Tröstliches. Zum einen wurde unter den Teppich gekehrtes angesprochen, was die Chancen für eine funktionierende Trauer ermöglicht. Des weiteren sind die finalen Umarmungen Ausdruck echter vorhandener Gefühle. Außerdem ist da noch Sidneys bester Freund, der ebenfalls eine Drogenvergangenheit hat, und Kym gern mal wiedersehen würde. Das gibt Hoffnung für die Heldin, die sich schuldig fühlt, überhaupt am Leben zu sein. Trotz hochdramatischer Hintergründe – null Punkte auf der Defätismusskala.
Die Form
Der gesamte Film ist aus der Hand bzw. von der Schulter gedreht, was ihm einen dokumentarischen Touch verleiht. Die Schwenks mit den eingefangenen Impressionen haben dabei nie etwas Zufälliges oder Flüchtiges. Es sind pointierte Reactionshots, die zum Verständnis und zur Synchronisation von Gefühlen beitragen. Die ganze Kameraarbeit ist ziemlich genial.
Die Musik
Jonathan Demme ist auch Regisseur einiger Musikfilme, zum Beispiel „Stop Making Sense“ über die Talking Heads. Das ist auch in „Rachels Hochzeit“ spürbar. Häufig erklingt irgendwo ein Instrument probender Musiker oder es sind Ausschnitte auftretender Musiker zu hören und zu sehen. Die kurzen musikalischen Darbietungen auf dem Hochzeitsfest sind vom Feinsten. Musik spielt auch eine zentrale Rolle im Leben von Rachels Ehemann Sidney, der bei der Trauung folgende Liebeserklärung abgibt: „Ich wollte eigentlich immer nur Musik hören. Als ich Rachel traf, habe ich nur noch Rachel gehört.“ Ein schönes Bild und eine schöne Liebeserklärung. Das ist überhaupt einer der Stärken dieses Films, dass er neben der dramatischen Vorgeschichte immer auch diese Momente der Leichtigkeit und Rührung hat.
Das Drehbuch
Es wird viel geredet, aber es gibt hier nichts Überflüssiges. Die Dialoge sind pointiert, auch mal unkorrekt oder schonungslos, manchmal auch witzig, aber nie langweilig. Das brillante Drehbuch stammt von Jenny Lumet, der Tochter von Sydney Lumet (s. TOP 20 der Filmgeschichte). Der Meister wird sicher beratend zur Seite gestanden haben, was die Leistung seiner Tochter aber nicht schmälert. Insbesondere die Skizzierung der Heldin, die dramatischen Enthüllungen und Zuspitzungen sind optimal entwickelt. Chapeau! Insgesamt macht es Spaß, dem Werk von lauter Könnern zuzuschauen.
Die Figuren
Die Heldin charakterisiert sich selbst folgendermaßen: „Die Öffentlichkeit hasst mich.“ Kym ist einfach eine faszinierende Hauptperson. Sie bringt alle Zutaten für einen interessanten, prägnanten Charakter mit. Sie ist der leibhaftige Fremdkörper in einer um Idylle bemühten Festgemeinschaft. Nicht nur ihre Rede am Polterabend löst Beklemmungen aus. Ihre Anwesenheit und Direktheit konfrontiert Freunde und Familie permanent mit der Tragödie und – noch schlimmer – mit ihren eigenen Schuldgefühlen. Kyms eigentlich ausweglose Situation besteht darin, dass sie sich selber nicht vergeben kann. Erst ganz am Ende schimmert so etwas wie Hoffnung durch. Anne Hathaway spielt diese Rolle einfach grandios. Überhaupt ist das ganze Casting perfekt. Hervorragend ist auch Bill Irwin in der Rolle des ständig um Harmonie und Kontrolle bemühten Vaters.
Fazit
Ein Vergleich mit Thomas Vinterbergs „Das Fest“ drängt sich auf, ebenfalls eine Familienfeier in herrschaftlichem Umfeld. Allerdings kann das dänische Drama „Rachels Hochzeit“ nicht das Wasser reichen. Dafür ist das Dogma-Machwerk mit seinen unscharfen Wackel-Schwenks einfach zu unprofessionell, auch zu eindimensional, zum Beispiel wenn der böse kapitalistische Patriarch sich im Verlauf der Geschichte als Kinderschänder entpuppt. “Rachels Hochzeit“ ist erwachsener, professioneller, vielschichtiger, intelligenter, witziger, spannender – einfach besser.