„The Holdovers“ ist eine hervorragende Tragikomödie, in der die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft erzählt wird. Wieder einmal stellt Alexander Payne („About Schmidt“) seine Qualitäten in der Beobachtung menschlicher Schicksale, der Entwicklung von originellen Figuren und Dialogen sowie der Etablierung glaubhafter erzählerischer Wendungen unter Beweis. Hier stimmt einfach alles, angefangen von der gediegenen Atmosphäre der elitären Barton-High-School im winterlichen Neuengland der 70er Jahre bis hin zur Ausstattung, der Kameraarbeit und der Filmmusik.
Die Figuren
Das ist schon genial, wie Paul Giamatti die Rolle des griesgrämigen Geschichtslehrers Paul Dunham, Fachgebiet: Antike Zivilisationen, mit Leben füllt. „Glubschauge“, so sein Spitzname, ist bei Schülern und Kollegen gleichermaßen unbeliebt. Paul ist ein Einzelgänger und Zyniker. Integrität ist nach seinen Beobachtungen „eine Posse“ und Werte existieren nur noch „auf Bankkonten“. Anfangs verteilt er genüsslich schlecht benotete Klassenarbeiten an seine Schüler, nicht ohne zusätzliche Hausaufgaben einzufordern, um bei nächsten Prüfungen besser abzuschneiden.
Der Unbestechliche
Das steigert natürlich nicht seine Beliebtheit, was Paul aber eher Freude zu bereiten scheint. Er hat also eine kleine sadistische Ader. Zum Glück beschränkt sich Pauls Widerborstigkeit nicht nur auf seine Schülerschaft. Auch mit der Schulleitung hat er Ärger, da er den Sohn eines wohlhabenden Spenders der High School durch eine Prüfung hat fallen lassen. Paul ist nicht korrumpierbar. Zur Strafe muss er nun über die Weihnachtsferien eine Handvoll Schüler beaufsichtigen. Das sind die „Holdovers“ (zu deutsch: Überbleibsel), die Aussortierten, die aus unterschiedlichen Gründen nicht nach Hause können.
Odd Couple
„The Odd Couple“ ist ein Theaterstück von Neil Simon und Bezeichnung einer Charakter-Konfiguration, in der äußere Umstände völlig unterschiedliche Figuren eine Zeit lang aneinander kettet. Das impliziert natürlich dramatisches Potenzial. Nachdem vier der fünf Aussortierten doch noch unterkommen, verbleibt nur noch der ebenso aufgeweckte wie renitente 17-jährige Schüler Angus Tully (Dominic Sessa). Und der findet seinen Lehrer schlicht widerlich: „Ich dachte, die Nazis verstecken sich alle in Argentinien.“ Die Konflikte sind also vorprogrammiert und werden fachgerecht erst am Ende beigelegt.
Der Katalysator
Die dritte im Bunde ist die korpulente schwarzafrikanische Köchin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph). Ihr Sohn Curtis, ehemaliger Schüler der Barton-High-School, der aber kein Geld fürs College hatte, ist gerade in Vietnam gefallen. Auch ihr enormer Whiskykonsum kann ihr nicht über den Verlust hinweghelfen. Trotz ihrer seelischen Notlage ist Mary ein wichtiger Katalysator. Sie ist es, die den scheinbar verbitterten Paul zum Nachdenken bringt: „Was stimmt nicht mit Ihnen?“ Und Paul ist klug genug, diese Anregung genauso anzunehmen wie ihren dargebotenen Whisky.
Die Geschichte
Im Grunde ist es ein Haufen verletzter Seelen, der hier im altehrwürdigen Gemäuer der High School eingepfercht ist. Es dauert ein bisschen, bis sich die Freundschaft zwischen Paul und Angus entwickeln kann. Eigentlich fängt es mit einer ausgekugelten Schulter an, die Angus sich trotz Verbots in der Turnhalle zugezogen hat. Im Krankenhaus schützt er Paul mit einer Notlüge, der ansonsten Ärger wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht bekommen hätte.
Nachdem Paul sein Verhalten überdenkt, lässt er sich sogar zu einer Spritztour nach Boston überreden. Dort besucht Mary ihre schwangere Schwester und Angus seinen Vater, der angeblich verstorben ist, tatsächlich aber in einem Pflegeheim lebt. Wieder eine dieser Wendungen. Dieser Besuch hat allerdings unangenehme Konsequenzen, denn der psychisch kranke Vater reagiert verwirrt und aggressiv, weshalb Angus zur Strafe nun auf eine Militärakademie soll. Das kann Paul verhindern, indem er die Schuld an diesem Ausflug auf seine Kappe nimmt. Denn das hat er inzwischen von Angus gelernt: Manchmal kann eine Notlüge hilfreicher sein als die Wahrheit.
Dramaturgie
In „The Holdovers“ gibt es zwar keine lebensbedrohlichen Situationen, keine Verfolgungsjagden oder Schießereien. Muss ja auch nicht. Ist ja auch kein Actionfilm oder Thriller. Dafür hat Alexander Payne immer überraschende Wendungen parat, die glaubhaft in der Geschichte und ihren Figuren verankert sind. Er schafft es, ihre Gefühle mit unseren zu synchronisieren. Jedem Hochgefühl folgt eine Enttäuschung, ein Konflikt mit neuen Herausforderungen und Hindernissen. Nach einer Feel-Good-Sequenz folgt das Drama und umgekehrt. So ist das richtig. Wenn Paul sich zum Beispiel für die Weihnachtsfeier der sympathischen Schulsekretärin Lydia Crane zurechtmacht, schwingt da seine Hoffnung auf eine Beziehung mit. Der Zuschauer hofft mit ihm, bis zu später Stunde Lydias Freund erscheint.
Finale
Am Ende muss Paul die High School verlassen, während Angus verbleiben darf. Das ist das Drama: In dem Moment, wo beide sich angefreundet haben, trennen sich ihre Wege. „Es ist das rechte Auge, in das man gucken muss“, verrät „Glubschauge“ dem Jungen zum Abschied. Das Drama hat aber auch gleich wieder eine Wendung parat. Denn zum einen wird Angus nicht auf die Militärakademie strafversetzt, was 1971 in den USA tödlich enden kann (s. Marys Sohn), zum anderen ist es für Paul vielleicht auch mal an der Zeit, etwas Neues in seinem Leben zu beginnen. Es gibt also Hoffnungen und das ist schön. „The Holdovers“ ist eine kleine Filmperle.