„Drachenläufer“ ist die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Khaled Hosseini. Regisseur Forster hält sich in seiner Adaption eng an die brillante Vorlage. Das ist gut so. Aber gibt es überhaupt gelungene Bestseller-Verfilmungen? „Vom Winde verweht“, „Einer flog über das Kuckucksnest“ oder „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ vielleicht? Aber generell ist es schwierig, die Qualitäten oder den Erfolg einer Kunstgattung auf eine andere zu übertragen. Alfred Hitchcock hat es irgendwann begriffen. Er hat sich auf Kurzgeschichten („Fenster zum Hof“) oder C-Literatur („Psycho“) konzentriert, in denen er das dramatische und visuelle Potenzial erkannt hat.
Stärken
Es geht um die Freundschaft des kleinen Amir zum gleichaltrigen Hassan, der ihn vergöttert. Amirs Verrat ist eine klassische Suspense-Situation. Zusammen mit ihm wird der Zuschauer Zeuge einer sadistischen Vergewaltigung Hassans durch drei ältere Jungen. Man will Amir zurufen: Du musst eingreifen oder Hilfe holen. Aber der Junge ist wie gelähmt, unfähig sich zu rühren. Er ist nun mal kein mutiger Held. Der Vorfall traumatisiert ihn. Jetzt will man ihm zurufen: Du musst dich den Erwachsenen anvertrauen, auch wenn du dein Unvermögen damit zugibst. Nein. Selbstekel und Schuldgefühle führen den Jungen in den Abgrund. Amir kann den Anblick des Menschen nicht mehr ertragen, der ihn an seine Feigheit erinnert: sein Busenfreund Hassan. Im Grunde kann Amir sich selbst nicht mehr ertragen, aber es ist scheinbar einfacher, den Auslöser zu entfernen.
Drama
„Keine Tat ist erbärmlicher als Stehlen“, ist eine Lebensweisheit von Amirs Vater. Also fingiert der Junge einen Diebstahl, den Hassan aus Liebe zum Freund fälschlicherweise gesteht. Denn das hat er ja vorher verkündet: „Wenn du willst, dass ich Dreck fresse, dann fresse ich Dreck.“ Und das tut Hassan dann. Das ist schon grandios von Khaled Hosseini konstruiert. Schwerer kann man seinem Helden das Leben eigentlich nicht machen. Sehr gut ist auch das Casting der Protagonisten, die dem Film etwas Authentisches verleihen. Auch der ältere Amir spielt – ganz im Gegensatz zu seinem Vater – in seiner Rolle etwas Unverbindliches, Flüchtiges. Das macht seinen seelischen Ballast transparent.
Schwächen
Ein Defizit in „Drachenläufer“ ist die bis zum Schluss andauernde Unfähigkeit des Helden, sich anderen Menschen anzuvertrauen und sein Trauma aufzuarbeiten. Daran ändert auch Amirs Versuch einer Wiedergutmachung nichts, indem er Hassans Sohn aus den Fängen der Taliban befreit. Ohne Gespräche, keine seelische Heilung. Amir hat noch eine weitere Schuld auf sich geladen, die in der Verfilmung nicht weiter behandelt wird. Eigentlich kommt es erst durch seinen Verrat zur Ermordung von Hassan durch die Taliban. Ohne die Trennung wäre die Familie seinerzeit wohl zusammen vor den Sowjets nach Pakistan geflohen. Amir trägt also eine Mitschuld am Tod seines Freundes und Bruders, wie sich herausstellt. Insofern hat sein Schlußsatz „Für dich – 1000 mal“ etwas Scheinheiliges.
Roman
Im Roman spricht Hassans Sohn bis zum Ende kein einziges Wort mehr. Auf die Möglichkeit, erneut in ein Waisenhaus zu kommen, reagiert er mit einem Selbstmordversuch. Das ist dramatisch und ein glaubhafter Ausdruck seiner traumatischen Erlebnisse. Im Film lässt Regisseur Forster den Jungen leider sofort wieder zu Wort kommen. Diese Erklärungen benötigt aber niemand und sind bei weitem nicht so beredt wie das Schweigen. Den Suizidversuch lässt Forster unter den Tisch fallen. Beides keine guten Entscheidungen.
Fazit
Insgesamt ist „Drachenläufer“ ein sehenswerter Film, dessen Bildergeschichte aber nicht an die Kraft der literarischen Vorlage heranreicht.