Thelma – Rache war nie süßer (Josh Margolin) USA 2024

„Thelma – Rache war nie süßer“ hat zwar eine interessante Heldin und ein klassisches Erzählmotiv (Rache), ist aber ansonsten ein langweiliger, oberflächlicher Film mit vielen Ungereimtheiten, Zufällen und handwerklichen Fehlern. Es gibt keine Raffinesse, kaum Überraschungen, kaum Hindernisse und so gut wie keine Gefahren. Man fragt sich auch, warum die Erzählung sich derart betulich, quasi im Gleichschritt mit ihren betagten Protagonisten, über die Runden quälen muss? Warum nicht in rasanter Action, anstatt in Rollatorengeschwindigkeit? Emotionen entstehen dadurch kaum, obwohl die betagte Heldin eigentlich alle erforderlichen Voraussetzungen mitbringt.

Die Protagonistin

Die 93-jährige Thelma lebt in einer recht feudalen Wohnung, vermisst ihren verstorbenen Mann, ist stur, ein bisschen tüdelig, schwerhörig, ein bisschen wacklig auf den Beinen und hat eine liebevolle Beziehung zu ihrem Enkel Danny. Eigentlich ist das Opening vielversprechend und erinnert an den grandiosen Film „Ein kleines Stück vom Kuchen“.  Aber dann, aber dann … 

Die Geschichte

Ein Enkeltrick. Betrüger erpressen Thelma am Telefon, 10.000 Dollar in bar an ein Postfach zu schicken. Damit wird auch die erste Ungereimtheit etabliert: Wieso wissen die Betrüger, dass Thelma einen Enkelsohn namens Danny hat? Woher haben die Betrüger all diese Insider-Informationen? Dafür liefert auch Dannys zuvor verlorene Brieftasche keine Erklärung. Wieso soll diese Summe überhaupt auf dem Postweg verschickt werden? Üblicherweise werden solche Forderungen doch über zweifelhafte Kreditinstitute wie Western Union oder die Bank of Scotland abgewickelt. Die Betrüger wären bei einem Opfer, das die notierte Anschrift nicht verloren hätte, doch problemlos von der Polizei aufzuspüren. Alles sehr merkwürdig hier. 

Weitere Ungereimtheiten

Wieso rufen Dannys Eltern, Gail und Alan, nachdem sie vergeblich stundenlang im Seniorenheim auf Thelma gewartet haben, nicht die Polizei? Woher weiß Thelma von der Anwesenheit und vom Versteck eines Revolvers, den sie im Haus ihrer dementen Freundin Mona entwendet?

Zufälle

Sie sind stets ein erzählerisches Armutszeugnis. In „Thelma – Rache war nie süßer“ haben sie Hochkonjunktur: Nachdem Thelma am Stadtrand gestürzt ist und Ben ihr wieder auf die Beine geholfen hat, fährt zufällig Freundin Lois vorbei und chauffiert beide zur gesuchten Adresse, einem Kiosk, in dem sich dutzende von Postfächern befinden. Thelma und Ben legen sich auf die Lauer. Sie müssen auch nicht lange warten, da kommt ein junger Mann vorbei und macht sich – man errät es schon – natürlich am observierten Postfach zu schaffen. Zum Glück steigt er anschließend auch nicht in sein Auto, sondern verschwindet ein paar hundert Meter weiter in ein Lampengeschäft. Eine Verfolgung wäre sonst auch gescheitert. Der Gipfel der Einfallslosigkeit ist aber Thelmas Suche nach dem Passwort am Computer des Betrügers, um ihr geraubtes Geld zu retournieren: Ein Griff in die Schublade und sie hat es. Alles supi hier!

Hindernisse

Auch sonst werden der Heldin bei ihrem kleinen Abenteuer möglichst wenig Hindernisse in den Weg gelegt, was weder glaubhaft und schon gar nicht dramatisch ist. Einmal müssen die Batterien ihres Scooters aufgeladen werden, aber das war’s dann. Hunger, Durst, Harndrang, Polizeistreife sind bei der stundenlangen Verfolgung kein Thema.

Antagonist

In anderen Filmkritiken ist viel von Herzenswärme und Respekt die Rede. Aber wenn ein Filmgestalter seine Heldin mit so einer Knalltüte von einem „Gegenspieler“ beglückt, dann nimmt er sie einfach nicht ernst. Er behandelt sie von oben herab, also respektlos. Eigentlich genauso wie Töchterchen Gail und Schwiegersohn Alan die Heldin behandeln, nachdem sie reingelegt wurde. Das ist die Ironie. Warum sollte Hitchcocks Gleichung „Je gelungener der Schurke, umso gelungener der Film“ je seine Gültigkeit verlieren? Die anfangs etablierte Verschlagenheit des Betrügers pulverisiert sich beim „Showdown“. Harvey ist ein bedauernswerter kranker Mann, aber doch kein Bösewicht. Nur wenn die Heldin auf einen ebenso intelligenten wie skrupellosen Antagonisten getroffen wäre, hätte sie ein echtes Problem gehabt. Aber doch nicht so.

Peinlichkeiten

Nachdem Danny mit seinen Eltern nach erfolgloser Suche wieder im Pflegeheim landet, lässt er sich zu einer weinerlichen, selbstanklagenden Volksrede hinreißen: „Ich bin ein Loser.“ Noch schlimmer ist seine schmalzige Liebeserklärung, ganz am Ende des Films, als er mit Thelma auf einer Parkbank sitzt. Ihre Antwort zeigt, dass sie schon wieder auf jemanden reingefallen ist und offensichtlich nichts dazugelernt hat.

Lösung

Wenn Danny Mitglied der Betrügerbande gewesen wäre, hätte das auch die Insider-Information zu Beginn erklärt. Also eine Variante von Sidney Lumets „Tödliche Entscheidung“. Das hätte uns Einblicke geben können in die Abgründe, die sich hinter der sorgsam gehüteten Fassade einer wohlbetuchten, gutbürgerlichen Welt auftun. Der drogenabhängige Danny, der dringend Kohle braucht und seine eigene Großmutter reinlegt. Das wär’s gewesen. Das hätte uns auch seine selbstmitleidige Volksrede und dieses schmalzige Gesäusel erspart.

Fazit

„Thelma – Rache war nie süßer“ fehlt die Rasanz, die Professionalität, die Raffinesse, das Unkorrekte, das Bösartige. Man kann zwei- bis drei Mal schmunzeln, aber das ist das höchste der Gefühle.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 1 blauer Smiley und 6 schwarze traurige Gesichter für "Thelma - Rache war nie süßer".

Barry Seal – Only in America (Doug Liman) USA 2017

„Barry Seal“ ist eine originelle Trickster-, Abenteurer- und Thrillerkomödie, die tragisch endet, also eine Tragikomödie mit einem Thrillerhintergrund. Sie spielt in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts und beruht auf wahren Begebenheiten. Aber anders als in „Spotlight“ von Tim McCarthy gibt es hier eine Geschichte, die in Rückblenden erzählt wird. Und diese Geschichte hat es in sich, genauso wie ihr Protagonist. Wenn mir früher bei meiner Tätigkeit als Drehbuch-Lektor ein derartiges Script untergekommen wäre, hätte ich es als völlig unglaubwürdig eingestuft und den Autoren des übermäßigen Drogenkonsums verdächtigt. Aber die Handlung ist so skurril, dass man sie sich eigentlich kaum ausdenken kann. Ein Indiz für ihre Realitätsnähe und für den Irrsinn US-amerikanischer Außenpolitik. Regisseur Doug Liman tat gut daran, sich eng an die wahren Begebenheiten zu halten.

Die Geschichte

USA 1986. Barry Seal (Tom Cruise) zeichnet seine Erlebnisse auf Video auf. Acht Jahre zuvor ist er mit kleinen Schmuggeleien bei seiner Arbeit als Flugkapitän ins Visier des CIA geraten. Die nötigen ihn zu Aufklärungs- und Transportflügen in mittelamerikanischen Staaten, „bei den Feinden der Demokratie“. Vorbehalte von Ehefrau Lucy weiß Barry zu zerstreuen. Aber was relativ harmlos anfängt, entwickelt sich zu einem Lieferservice für Schwarzgeld und Rauschgift. Während einer Razzia bei kolumbianischen Drogenbossen wird Barry von der Armee verhaftet. Die CIA erwirkt seine Freilassung. Dieses Mal nötigen sie ihn, in Nicaragua für die Contras zu spionieren. Die sind allerdings eher am Rauschgifthandel interessiert als an politischen Kämpfen.

Drogengeld

Das Geschäft boomt und Barry weiß gar nicht, wohin mit dem ganzen Geld. Schwierigkeiten treten erst auf, als Lucys jüngerer Bruder verhaftet und – kaum wieder auf freiem Fuße – vom Drogenkartell liquidiert wird. Spätestens jetzt merkt Barry, dass er hier in ein tödliches Spiel geraten ist, aus dem es keinen Ausstieg gibt. Kurz darauf wird er bei einer Razzia auf seinem Firmengelände in den USA festgenommen. Seinen Kopf kann er gerade noch aus der Schlinge ziehen, indem er sich für eine Antidrogenkampagne des Weißen Hauses einspannen lässt. Dummerweise werden, entgegen den Absprachen, heimlich aufgenommene Fotos vom Rauschgiftgeschäft im amerikanischen Fernsehen veröffentlicht. Damit ist die Jagd der Drogenbosse auf Barry eröffnet, die ihn schließlich 1986 in Arkansas liquidieren.

Die Figuren

Schon das Opening charakterisiert Barry vortrefflich: Als zweiter Flugkapitän eines Passagierjets schaltet er den Autopiloten aus und hat seine diebische Freude daran, die Fluggäste ein bisschen durchzuschütteln. Sein Hang zu Unkorrektheiten und Wagemut wird mit einer gehörigen Portion Naivität kombiniert. Barry ist nicht der Hellste unter der Sonne, aber er ist stets freundlich, liebt das Fliegen, seine Frau Lucy und seine Kinder. Er ist ein Schlawiner, eine interessante und prägnante Figur, die unsere Sympathien weckt. Und Tom Cruise spielt diesen Trickster ähnlich brillant wie den Dating-Coach Frank Mackey in „Magnolia“.

Ehefrau Lucy ist ebenfalls einfach gestrickt. An der Teilnahme einer feucht-fröhlichen Sause beim kolumbianischen Drogenkartell kann sie nichts Anrüchiges finden. Im Gegenteil. Ein kleiner Quickie mit Barry während des Rückflugs zeigt ihre Begeisterung für seine beruflichen Ausschweifungen. Am Ende bringt Barry Frau und Kinder aus dem Schussfeld, indem er sie überredet, zurück nach Baton Rouge zu ziehen.  Er weiß nur zu gut, was ihn erwartet. Auch das ist schön und trägt zur Identifikation mit dem Helden bei. Überhaupt ist die ganze Besetzung der Schauspieler bis in die kleinsten Nebenrollen einfach hervorragend. „JB“, Lucys etwas unterbelichteter Bruder, spielt einfach genial.

Schwachpunkte

Man hat nie wirklich Angst um Barry. Sein Überlebenskampf ist originell, auch schwarzhumorig, aber – bis aufs Ende – nie dramatisch. Bei Schwierigkeiten demonstriert er seine Qualitäten als Stehaufmännchen. Das Komödiantische überwiegt, wobei das ja auch dramatisch sein könnte (siehe z.B. „Sein oder Nichtsein“ von Ernst Lubitsch). Vielleicht hätten wir auch etwas mehr erfahren können über Barry oder seine Ehe (wie z.B. in „Donnie Brasco“). Da gibt es eine sehr schöne Szene, als Donnie beim Paartherapeuten seiner Frau gesteht – was er eigentlich nicht darf -, dass er als Undercover-Agent fürs FBI arbeitet. Natürlich glaubt ihm niemand. Ähnliches hätte man sich auch in „Barry Seal“ gewünscht. Da geht die Beichte nahezu unter. Im Vordergrund stehen die Abenteuer.

Tiefgang

Die limitierte Dramatik drückt sich auch in Barrys Umgang mit dem Drogenhandel aus. Alles sehr verniedlichend. Dabei schafft er Unmengen von Rauschgift ins Land mit verheerenden Auswirkungen für die Konsumenten. Für Barry ist das kein großes Ding. Hier hätte man sich einen Gewissenskonflikt vorstellen können mit seiner Entscheidung zum Ausstieg. Die Drogenbosse und das CIA hätten ihm die Unmöglichkeit seiner Wahl schnell klargemacht. Barry in der Zwickmühle. Es hätte die emotionale Nähe zur Hauptfigur intensiviert. Das wär’s gewesen.


Iran-Contra-Affäre

Mehr als nur eine Fußnote. Das muss man sich mal reinziehen: Die CIA tätigte 1985 geheime Waffenverkäufe mit dem Iran, also das Land, in dem 6 Jahre zuvor 52 Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft in Geiselhaft genommen wurden. Hinzu kam, dass der Iran gerade Krieg mit dem Nachbarstaat Irak führte. Dessen Machthaber Saddam Hussein wurde wiederum von den USA unterstützt, bis sie ihn später bekriegten. Für die Zwischenlandungen bei den Waffenlieferungen nutzten die Amerikaner israelische Flughäfen, also Gebiete des Erzfeindes des Irans. Mit dem Geld aus den Waffenverkäufen unterstützten die USA nun die Contras in Nicaragua bei ihrem Kampf gegen die Sandinisten. Die wiederum benutzten das Geld für Drogengeschäfte und schmuggelten das Rauschgift mit Wissen der amerikanischer Behörden wieder in die USA. De facto betätigten sich die Amerikaner also als Waffen- und Drogenhändler im großen Stil. 

Fazit

„Barry Seal“ ist eine sehr unterhaltsame, schwarzhumorige Tricksterkomödie mit ausbaufähigem Tiefgang.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 5 blaue Smileys und 2 schwarze traurige Gesichter für "Barry Seal".

Der Hund, der Herr Bozzi hieß (Ladislao Vajda) I/E 1957

„Der Hund, der Herr Bozzi hieß“ ist eine wundervolle, kleine Mystery-Thrillerkomödie. In ihrer Anlage ähnelt sie Frank Capras „Ist das Leben nicht schön?“: Eingeführt von einem Off-Erzähler werden neorealistische Elemente mit märchenhaften gekreuzt. Sehr schön ist auch die Kontrastierung des einzelgängerischen, profitorientierten Daseins von Rechtsanwalt Dr. Bozzi (Peter Ustinov) mit dem quirligen, teils sorgenvollen Miteinander der italienischen Bewohner.

Die Geschichte

Rechtsanwalt Dr. Bozzi (Peter Ustinov) besitzt einige Immobilien in einem Viertel Brooklyns mit vielen italienischen Zuwanderern. Mitgefühl mit seinen manchmal unzuverlässigen Mietern kennt er nicht. Gnadenlos treibt er Pacht und Schulden ein, bis er von einer alten Frau mit magischen Fähigkeiten verzaubert wird. Fortan muss er als hässlicher Hund sein Dasein fristen und lernt so das Leben von einer anderen Seite kennen. Erst die Liebe des kleinen Toni befreit ihn vom Bann. Geläutert erlangt Dr. Bozzi seine menschliche Gestalt zurück und hat alle Mühe, seine Wandlung zu verbergen.

Regie

Immer wieder überrascht Ladislao Vajda mit originellen Regieeinfällen. Da ist zum Beispiel das Fleischer-Ehepaar, das die musikalische Darbietungen des kleinen Toni zum Erwerb eines Knochens anfangs freudestrahlend unterstützt. Bei nachfolgenden Auftritten verfinstern sich ihre Mienen zusehends. Herrlich ist auch die Szene, als Bozzi in Gestalt des hässlichen Hundes, Giulias Erbschaft in Höhe von 6.000 Dollar auffrisst, um sie zu beschützen.

Übertreibungen

Von allem gibt es in „Der Hund, der Herr Bozzi hieß“ eine bisschen zu viel: Bozzi ist zu habgierig, sein Adlatus Bruno zu untertänig, Giulia zu einfältig, ihr Freund Alfonso zu schmierig usw. Auch Bozzis Entwicklung vom Saulus zum Paulus, nachdem er das Leben in der Gosse kennengelernt hat, ist zu uneingeschränkt. Andererseits tragen diese unbekümmerten Übertreibungen maßgeblich zum Charme dieses Films bei. Irgendwie ist es auch lustig, wenn Bozzi zum Beispiel – noch in Menschengestalt – hinter seiner Wohnungstür Hundegebell imitiert, um das Gesindel zu vertreiben.

Fazit

Vor allem ist dieser Film eine Hymne an die Freundschaft oder die Liebe zu anderen Menschen bzw. Lebewesen und hat damit auch etwas Zeitloses. Herzerfrischend!

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 5 blaue Smileys und 2 schwarze traurige Gesichter für "Der Hund, der Herr Bozzi hieß".

Der unverhoffte Charme des Geldes (Denys Arcand) CND 2018

„Der unverhoffte Charme des Geldes“ ist eine schräge, originelle Robin-Hood-Variante – ein Stelldichein von Losern, Obdachlosen, Models, Gangstern und Finanzgenies. Held ist Pierre-Paul Daoust, ein promovierter Philosoph, der als Paketbote arbeitet. Der Widerspruch in Person, eher unbeholfen und linkisch. Nur an Obdachlosen, für die er sich ehrenamtlich engagiert, geht er nie vorbei, ohne etwas zu spenden. Das Materielle ist ihm scheinbar nicht so wichtig. Aber an zwei Reisetaschen voller Geld, die ihm als Überbleibsel eines Raubüberfalls buchstäblich vor die Füße fallen, geht er dann doch nicht vorbei. Und damit nimmt die Geschichte ihren Lauf.

Figuren

Im Grunde ist Pierre-Paul mit seinem Fund völlig überfordert und bunkert seinen Schatz erst mal in einem Mietcontainer. Ein bisschen zwackt er natürlich für elementare Bedürfnisse ab, zum Beispiel Sex mit einer Frau. So trifft er auf die Edelprostituierte Camille Lafontaine, in die er sich verliebt. Sie ist die zweite im Bunde, der dritte ist das Finanzgenie Sylvain Bigras, genannt „The Brain“. Den weiht Pierre-Paul in seinen Fund ein, damit der ihn zweckmäßig verwaltet. Zusammen mit dem Finanzmogul Wilbrod Taschereau und einer Bankangestellten ist das Quintett vollständig. Sehr schön ist die Verkettung der ins Spiel gebrachten Personen: Ohne die Aneignung des Geldes hätte Pierre-Paul keinen Kontakt zu Camille aufgenommen. Ohne Camille wäre ein Kontakt zu Wilbrod, einem ihrer Ex-Kunden, nie zustande bekommen usw. Alles fügt sich. Nur dieses skurrile Quintett ist in der Lage, den Coup durchzuziehen. Auch die sonstigen Figuren sind nicht minder originell und ebenso hervorragend gecastet.

Genre

Wikipedia und FAZ klassifizieren „Der unverhoffte Charme des Geldes“ als Krimikomödie, der „Filmdienst“ gar als Drama. Nichts davon stimmt. Scheint doch schwieriger zu sein, einen Spielfilm seinem Genre zuzuordnen? Da von Anfang an die Identität des Täters feststeht, geht es mitnichten um die Aufklärung eines Verbrechens. Also, ein Krimi ist es definitiv nicht. Ein Drama schon gar nicht. Da der Held durch seine Aneignung zweier Reisetaschen voller Geld von Anfang an in Gefahr gerät und der komödiantische Grundtenor sich bis zum Ende durchzieht, handelt es sich um einen Genremix aus Thriller und Komödie, also um eine Thrillerkomödie.

Schwachpunkte

Da die Polizei Pierre-Paul verdächtigt, im Besitz des Geldes zu sein und auf Schritt und Tritt observiert, fragt man sich, wieso das Ver- und Ausgraben der Geldscheine nicht beobachtet wird? Überhaupt machen die Ermittler keinen besonders gefährlichen Eindruck. Sie sind zwar eifrig bemüht, kommen aber immer zu spät, zum Beispiel bei der finalen Geldverteilung des Quintetts an Steuerflüchtige. Noch gravierender ist die fehlende Gefahr, die von den Besitzern des geraubten Vermögens ausgeht. Die Mafiosi foltern zwar einen der jugendlichen Gangster des Raubüberfalls, lassen Pierre-Paul und Camille aber ungeschoren. Dieses dramatische Potenzial darf man sich eigentlich nicht entgehen lassen. Vor allem wirkt die Ermordung des konkurrierenden Gangsterbosses Vladimir kontraproduktiv. Von wem wollen die Mafiosi denn jetzt das Geld zurückbekommen? Was hat die Kripo davon, wenn sie am Ende Wilbrod mit einem minderjährigen Model eine Falle stellt? Der Ruf des Finanzmoguls ist zwar ruiniert, aber strafrechtlich wird es schwierig, ihn zu belangen, wie er die Polizisten auch sofort belehrt: „Die Reichen und Mächtigen entkommen der Justiz“.

Lösungen

Vor dem Vergraben des Geldes hätte man nur zeigen müssen, wie Pierre-Paul und seine Freunde sich ihrer polizeilichen Verfolger entledigen. Das Ermittlerduo hätte ruppiger und durchtriebener agieren können. Es hätte zum Beispiel versuchen können, einen Keil zwischen das Quintett zu treiben. Wie wär’s denn gewesen, wenn sie Pierre-Paul mit einem angeblichen Geständnis von „The Brain“ erpresst hätten? Wie wär’s denn gewesen, wenn die Mafiosi mit Hilfe eines Informanten bei der Polizei Pierre-Paul auf die Spur gekommen wäre? Das hätte seine Schwierigkeiten multipliziert. Ohne erzählerische Konsequenzen ist die finale Falle für Wilbrod überflüssig. Eigentlich wäre es viel schöner gewesen, wenn das Model tatsächlich ein Geschenk von Camille gewesen wäre, natürlich ein volljähriges.

Fazit

Das märchenhafte Happy End passt zur komödiantischen Atmosphäre von „Der unverhoffte Charme des Geldes“. Es ist sehr berührend und brillant inszeniert, wenn Pierre-Paul und Camille am Ende dem obdachlosen Jean-Claude eine Wohnung zur Verfügung stellen. Hier wird auch die Philosophie von Denys Arcand extrahiert: Das rücksichtslose Zusammenraffen von Geld macht weniger glücklich als eine sinnvolle Umverteilung. Vergesst die Schwachen nicht! Das ist auch die Botschaft der eindrucksvollen Schlussbilder, die Gesichter von echten Obdachlosen zeigen, in denen sich die Kehrseite eines Lebens im Wohlstand widerspiegelt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "Der unverhoffte Charme des Geldes"

Midnight Run (Martin Brest) 1988

„Midnight Run“ ist eine originelle Thrillerkomödie, die neben den üblichen Genrezutaten vor allem die Geschichte einer Freundschaft erzählt. Da ist zum einen der desillusionierte Kautionsjäger Jack Walsh (Robert De Niro) und zum anderen der ehemalige Mafiabuchhalter Jonathan „Duke“ Mardukas (Charles Grodin). Der hat nicht einfach nur seine ehemaligen Arbeitgeber beklaut, sondern die Beute von 15 Millionen Dollar auch noch der Wohlfahrt vermacht. Es ist ein klassisches „Odd-Couple“-Paar, also zwei gegensätzliche Charaktere, die aufgrund äußerer Umstände aneinander gekettet sind. Hier im buchstäblichen Sinn, denn Jack hat den Auftrag, den „Duke“ innerhalb von fünf Tagen für 100.000 Dollar nach Los Angeles zu schaffen. Nachdem er den Gesuchten in New York aufgespürt hat, fesselt er ihn mit seinen Handschellen. Aber ganz so einfach ist die Rückreise natürlich nicht. Zum einen sind ihnen FBI-Agent Alonzo Mosely (Yaphet Kotto) sowie Mafiaboss Jimmy Serrano (Dennis Farina) mit ihren Leuten auf den Fersen. Zum anderen entpuppt sich der „Duke“ als echte Nervensäge. Zunächst täuscht er eine Flugangst vor, weshalb die Jagd nun mit allen übrigen Verkehrsmitteln fortgeführt wird.

Roadmovie

Was dann folgt, ist wirklich sehr schön gemacht. Ein Roadmovie mit Flucht-Verfolgungsszenen quer durch die USA. Das gibt dem „Duke“ auch Zeit, seinen Entführer mit unangenehmen Fragen zu konfrontieren, ihn zu kritisieren oder ihm gute Ratschläge zu erteilen. Für Jack ist es auch eine Reise in die Vergangenheit und eine Art Therapie. In Chicago hat er früher als Detective bei der Polizei gearbeitet, bis zu seiner Kündigung. Offenbar wollte Jack sich nicht korrumpieren lassen wie viele seiner Kollegen. Die Schmiergeldzahlungen stammten von eben jenem Serrano, dessen Leute nun hinter ihm her sind. Alles fügt sich zusammen.

Backstory

Sehr schön ist auch die Begegnung von Jack mit seiner Ex-Frau, bei der beide schnell wieder in alte Muster verfallen. Den aufkeimenden Streit kann ihre gemeinsame Tochter Denise schlichten. Auch das ist eine sehr schöne, berührende Szene. Überhaupt ist es einer der Vorzüge dieses Films, irgendwie immer MEHR zu bieten. Er ist nicht „nur“ witzig, spannend und rasant. Er lässt sich dann auch wieder Zeit, kümmert sich um seine Figuren, schafft berührende Momente und macht nachdenklich.

Finale

Am Ende hat Jack die Frist eingehalten. Er trifft rechtzeitig mit dem „Duke“ in Los Angeles ein, wo er ihn aber zum Entsetzen seines Auftraggebers laufen lässt. Damit verzichtet Jack zwar auf sein Honorar, hat aber einen Freund fürs Leben gewonnen. Außerdem entpuppt sich das Geschenk, das er im Gegenzug vom „Duke“ erhält, als das Dreifache seines Honorars. Nachdem die beiden Freunde Abschied genommen haben, entledigt Jack sich seiner alten, kaputten Armbanduhr (ein Geschenk seiner Ex-Frau). Er ist bereit für einen Neuanfang und geht beschwingten Schrittes in die Nacht.

Figuren

Darüber hinaus sind alle Figuren und Nebenfiguren hervorragend gecastet: Der schmierige Besitzer des Kautionsbüros, sein kauziger Gehilfe, der bullige, etwas unterbelichtete Kautionsjäger Marvin Dorfler usw.
„Midnight Run“ zeigt auch wie Running Gags kunstgerecht eingesetzt werden. Dreimal schafft Jack es, seinen Konkurrenten Marvin mit einem billigen Trick abzulenken. Beim vierten Mal will Marvin partout nicht drauf reinfallen und sich umschauen. Hätte er es dieses Mal doch gemacht, dann hätte er hinter sich eine ganze Armada von Polizisten sehen können. So ist er wieder der Gelackmeierte.

Schwachpunkte

Ein paar Schwachpunkte gibt es schon: FBI und Mafiosi wirken ein bisschen unterbelichtet. Das ist stellenweise ganz amüsant, aber nicht sonderlich spannend. Das betrifft auch sämtliche Schießereien, bei denen wie durch ein Wunder niemand getroffen wird. Insgesamt hätten die Verfolger ein bisschen hinterhältiger sein können. Dass es ganz einfach ist, am Telefon die Kreditkarte einer anderen Person zu sperren, muss man schlucken. Ebenso wie Serranos plötzliches Interesse an angeblich belastenden Disketten. Diese Datenträger sind doch unendlich duplizierbar, was doch auch ein etwas einfältiger Mafiaboss ahnen könnte. Trotzdem macht „Midnight Run“ einfach gute Laune!

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 5 blaue Smileys und 2 schwarze traurige Gesichter für "Midnight Run"