Anora (Sean Baker) USA 2024

Endlich mal wieder ein Oscargewinner, der es verdient hat. „Anora“ ist eine moderne Aschenputtel-Variante, wobei sich der Prinz hier als vergnügungssüchtiger Schnösel entpuppt und seine Eltern als russische Oligarchen, also Mafiosi. Ein großer Vorteil ist auch, dass hier eine ganz einfache Geschichte erzählt wird, ohne Schnickschnack. Die Tragikomödie ist im Stile eines Dokumentarfilms gedreht, authentisch, packend und ganz nah dran an seiner herausragenden Hauptdarstellerin. „Anora“ hat Witz, Spannung, gute Dialoge, eine exzellente Kameraarbeit und ist gekonnt inszeniert.

Heldin

Star des Films ist die 23-jährige Anora, oder Ani wie sie genannt werden möchte. Sie arbeitet als Stripperin in einem Nachtclub. Manchmal gibt es spezielle Wünsche, wie die des jungen Ivan, die es dann zu erfüllen gilt.
Ani ist die Ambivalenz in Person: Sie ist charmant und rotzfrech, naiv und schlau, romantisch und renitent, lieb und kämpferisch, prollig und weltgewandt. Ihr Fluchen und ihre Naivität haben etwas Sympathisches. „Freut mich, Sie endlich kennenzulernen“, begrüßt sie Ivans Mutter, die Ani wie Luft behandelt. Einmal begehrt sie auf und droht der Oligarchin mit einem Anwalt, um ihre Rechte als Ehefrau einzuklagen. Die Reaktion lässt sie verstummen. Ani ist nicht blöd. Sie begreift sofort, dass diese Leute nicht zögern würden, ihr Leben zu zerstören. Sie handelt noch nicht mal ihre Abfindung von 10.000 Dollar in die Höhe. Sonst hat Ani immer gehandelt, bei ihrem Honorar, ihrem Ehering. Aber da war es etwas Spielerisches. Jetzt nicht mehr. Auch Ivan holt Ani unsanft aus ihren Träumen, als er die gemeinsame Zeit lapidar zusammenfasst: „Wir hatten Spaß“, und später, um sie vollends auf den Boden der Tatsachen zu holen: „Bist du blöd?“ 

Figuren

Auch alle anderen Figuren sind herausragend besetzt. Der pubertierende Ivan, der den Akt nur als hektische Kopulationsnummer kennt und anschließend seine Playstation traktiert. Alles, was seine „Freunde“ später bei der Suche nach ihm sagen können: „ Der macht gute Partys“. Die beiden Handlanger des Oligarchen, Igor und Garnick, haben so gar nichts mit den gängigen Klischees von russischen Gangstern gemein. Patenonkel Toros, Ivans Aufpasser, der zur Tarnung als russisch-orthodoxer Priester arbeitet, klärt Ani auf: „Ivan ist noch ein Kind“ und „Ich hab’ kein Instagram. Ich bin ein Erwachsener“. Igor entwickelt im Laufe des Geschehens echte Zuneigung für Ani. Nach der Annullierung der Ehe lässt er sich zu folgender Bemerkung hinreißen: „Ich finde, Ivan sollte sich entschuldigen.“ Das ist mutig, auch wenn er sofort wieder in die Schranken gewiesen wird.

Oligarchen

Die entschuldigen sich natürlich nicht. Überhaupt ist die Darstellung der Superreichen sehr stimmig. Im Privatjet kommen sie angedüst, um den Müll wegzuräumen, den ihr Filius angehäuft hat. Dafür machen sie sich nicht ihre Finger schmutzig. Dafür haben sie ihre Leute. Beim Verlassen der Villa mit teilweise demolierter Inneneinrichtung steckt Toros den Putzfrauen ein paar Extra-Scheine zu: „Bisschen unordentlicher als sonst“. So läuft das. Mit Geld kann man den Dreck schnell und effektiv beseitigen. Aber eben nicht alles. Die Probleme mit ihrem pubertierenden Jüngling sind eben ganz irdischer Natur. Da hilft auch kein Reichtum. Hilfsbereitschaft oder Zärtlichkeit hat keinen Platz in dieser Welt. Nicht bei den Reichen. Die gibt es außerhalb, zum Beispiel als Igor nach der Annullierung der Ehe Ani wieder nach Hause begleitet. Da legt er im Flugzeug eine Decke über die Schlafende. Bei all dem spürt man: Sean Baker hat eine Liebe für seine Figuren und ihre Marotten – für alle und das ist schön.

Erwartungshaltung

Jeder Zuschauer hat (ab einem gewissen Alter) hunderte, tausende Filme gesehen und sozusagen auf seiner inneren Festplatte abgespeichert. Szenen mit Wiedererkennungswert werden automatisch mit dem Speichermaterial abgeglichen. Bei einer Übereinstimmung wird die Erwartung des Zuschauers bestätigt. Wiederholt sich dieser Vorgang, dann tritt – genau – Langeweile ein. Überraschungen sind eben ein wichtiger Baustein der Dramaturgie. Beispiel: Aus den eher einfach gestrickten Thrillern „John Wick“ oder „The Equalizer“ kennen wir russische Mafiosi, d.h. wir glauben sie zu kennen. Sie werden uns präsentiert als tätowierte, Wodka trinkende, unterbelichtete, brutale Schläger und wir sind meist froh, wenn sie auf der Strecke bleiben. Ist ja nicht schade um sie. Es sind Abziehbilder. In „Anora“ sind alle Mafiosi konsequent gegen den Strich gebürstet. Das ist zum einen glaubhafter und auch überraschender, also dramatischer. Desgleichen Anis Arbeitgeber, als sie ihm mitteilt, außerplanmäßig eine Woche Urlaub zu nehmen. Der ist zwar nicht begeistert, lässt sie aber bereitwillig ziehen. Auch das ist überraschend, zumal in diesem Milieu.

Gewalt

In einem Interview moniert Sean Baker die Bereitschaft, Gewalt im Gegensatz zur Sexualität in der filmischen Darstellung bereitwillig zu akzeptieren. Das mag auch dominant ein amerikanisches Problem sein (Puritanismus)? Aber er hat recht. Wie viele Filme mit der Darstellung exzessiver Gewalttaten gibt es im Vergleich mit denen lustvoller Sexualität? In jedem Fall dominiert die Gewalt. Nicht so in „Anora“. Auch in diesem Punkt wird die Erwartungshaltung immer wieder durchbrochen. Ständig erwarten oder befürchten wir, dass die russischen Kettenhunde endlich mal zuschnappen. Pustekuchen.

Einmal wird Ani von Igor und Garnick gefesselt. Aber das ist eher eine Slapstickszene. Dann demoliert Igor die Inneneinrichtung eines Geschäfts, aber ansonsten ist es Anora, die zuschlägt und zum Beispiel Garnick mit einem Fußtritt die Nase bricht. Später liefert sie sich noch eine Prügelei mit einer eifersüchtigen Kollegin. Aber die Mafiosi verhalten sich konträr zu unseren Erwartungen, gerade die, die sich die Finger schmutzig machen könnten oder sollten. Die sind beschwichtigend, vergleichsweise zurückhaltend oder auch hilfsbereit (Igor). Sie haben ja auch ganz andere Möglichkeiten, ihre Ziele durchzusetzen. „Anora“ ist gewissermaßen ein Anti-Tarrantino.

Dramaturgie

Die Hindernisse sind alltäglicher Natur. Es ist die Mitbewohnerin, die morgens in Anis Zimmer platzt, sie weckt und nach der Milch fragt. Garnick, der sich in Toros Wagen nach seinem Nasenbruch übergeben muss. Der Abschleppwagen, der Toros Wagen bei ihrer Suche nach Ivan schon am Haken hat. Dabei verleihen die sich ständig überlappenden Dialoge und Aktionen dem Film eine unglaubliche dramatische Dichte. Es steckt sehr viel drin. Man muss sich schon konzentrieren. Auch das ist gut, sehr gut.

Schwachpunkt

Singular. Es gibt nur einen, aber einen gravierenden: Das erste Drittel ist viel zu lang. Irgendwann wird das Partyleben öde. Das ist ganz amüsant und interessant, aber nicht 30 Minuten. Auch hier bewahrheitet sich Patricias Highsmiths Postulat: „Eine gute Story beginnt so nahe wie möglich vor ihrem Ende“. Also die Hochzeit und das Eintreffen der Antagonisten müssten eher platziert werden. Es ist ja auch nicht so, dass hier eine große Liebesgeschichte erzählt wird. Die Begegnung zwischen Ani und Ivan hat von Anfang an etwas Flüchtiges. Eigentlich hat sie kein Fundament und keine Zukunft, auch wenn sie sich mögen. Hier geht es ja nicht um die Liebe des Lebens, wie etwa in „Die Brücken am Fluss“ von Clint Eastwood. Ein Grund mehr, eher zu Potte zu kommen.

Finale

Am Ende ist Anora wieder da, wo sie hergekommen ist. Alles ist wieder an seinem Platz. Ihre Koffer stehen wieder vor ihrem Wohnhaus. Auch mit Igor wird es keine Zukunft geben, obwohl sie beim Abschied von ihren Gefühlen übermannt wird und beim Quickie in seinem Wagen weinend auf ihm zusammenbricht. Jetzt fällt die ganze Anspannung von ihr ab. Das Resultat ihrer einwöchigen emotionalen Achterbahnfahrt. 

Fazit

Der Film ist witzig, unterhaltsam, spannend, interessant, erhellend, wirkt nach – kurz: „Anora“ macht einfach Spaß! Großes Kino!!

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für Anora.

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Philomena (Stephen Frears) GB 2013

Zum einen beruht „Philomena“ von Stephen Frears auf einer wahren Begebenheit, die nicht für eine abendfüllende, dramatische Erzählung taugt. Zum zweiten halten die Filmemacher sich auch noch eng an das Korsett dieser ungeeigneten Vorlage. Sogenannte wahre Begebenheiten sollte man aber als ein Art Steinbruch betrachten, von dem man nur konfliktreiche Elemente benutzt, um sie dann entsprechend zu gestalten. Hier ist aber eine über weite Strecken langweilige und betuliche Tragikomödie entstanden, woran auch eine originelle Protagonistin (hervorragend: Judi Dench) und ein paar witzige Dialoge nichts ausrichten kann.

Die Geschichte

Ist schnell erzählt. Die fast 70-jährige Philomena spürt gemeinsam mit dem Journalisten Martin Sixsmith ihrem leiblichen Sohn Anthony nach. Der wurde im Alter von vier Jahren von den Nonnen eines irischen Klosters an wohlhabende Adoptiveltern verkauft. Per Vertrag wurde Philomena zu einem Verzicht auf das Sorgerecht genötigt. Auf Befragung weiß die Leiterin des Klosters angeblich nichts über den Verbleib ihres Sohnes. Die Spur führt die ungleichen Ermittler schließlich in die Vereinigten Staaten, wo sie aber feststellen müssen, dass Anthony bereits vor Jahren verstorben ist. Philomenas größte Sorge, dass sie in den Erinnerungen ihres Sohnes keine Rolle gespielt hat, kann sein Lebensgefährte Pete aber zerstreuen. Anthony war vor seinem Ableben im Kloster und ist dort auf dem Friedhof begraben. Konfrontiert mit ihren Falschaussagen weisen die verantwortlichen Nonnen alle Schuld von sich. Philomena vergibt ihnen, um endlich Ruhe zu finden. 

Die Figuren

Nahezu vorbildlich ist die Konzentration auf die Heldin, die in fast allen Szenen präsent ist. Ein Fehler dagegen ist es, sie in gezeigtem Ausmaß als Opfer zu stilisieren. Warum? Weil es zur Distanzierung beiträgt. Hätte sie Schuld auf sich geladen, hätten wir mehr mit ihr mitzittern können. Ein weiterer Fehler ist die Figur des arroganten Journalisten Martin, eines in Oxford studierten Schnösels, der Philomena und ihresgleichen für „schwache, ungebildete Menschen“ hält. Auch wenn im Verlauf des dünnen Geschehens eine Nähe zwischen den Protagonisten entsteht, weckt er nie Gefühle.

Redundanz

Martins Ehefrau moniert das vorzeitige Verlassen ihres Mannes bei einem öffentlichen Vortrag. Martin und Philomena unterhalten sich bei ihrer Fahrt zum Kloster über die Vorzüge seines Mietwagens. Martin trifft einen ehemaligen Kollegen im Flugzeug, der im Gegensatz zu ihm Business-Class fliegt. Philomena schlürft vor dem Start des Flugzeugs einen Cocktail oder fährt im Fahrstuhl eines New Yorker First-Class-Hotels nach unten. Dann gibt es Aufnahmen von diversen Anfahrten zu meist üppig ausgestatteten Anwesen. Nur, was hat das alles mit der Erzählung zu tun?

Weitere Schwächen

Ein großer Fehler ist auch das Ableben von Philomenas Sohn. Damit verzichten die Filmemacher auf eine hochdramatische Konfrontation, nämlich auf den Vorwurf des Sohnes an die Mutter, sie verkauft zu haben. Das Ende ist eine erzählerische Katastrophe. Philomena vergibt ihrer ärgsten Widersacherin, womit die Täter mal wieder davonkommen. Der christliche Akt der Vergebung mag im realen Leben ganz schön sein, eine Erzählung benötigt aber eher das Gegenteil, also Dramatik. Im Rachethriller „Man on Fire“ lässt Ridley Scott seinen Helden zu diesem Aspekt folgendes verlauten: „Vergeben kann nur Gott. Ich stelle nur den Kontakt her.“

Lösungen

Philomena müsste eine Schuld auf sich geladen haben. Also, im katholischen Irland des vorigen Jahrhunderts hat sie ein uneheliches Kind zur Welt gebracht. In ihrer Verzweiflung legt sie ihr Neugeborenes am Eingang des Nonnenklosters ab. Sie klingelt und versteckt sich. Die Nonnen kümmern sich um ihr Baby. Ca. fünf Jahre später (nicht 50!) leidet Philomena mehr denn je unter ihrer Verzweiflungstat. Sie sucht das Kloster auf und erhält nur vage Auskünfte. Jetzt muss sie an die Identität der Adoptiveltern gelangen. Wie? Informationen kann sie (wie im Film) in der Kneipe des nahegelegenen Dorfes bekommen. Das örtliche Hotel könnte die Personalien der dort abgestiegenen Adoptiveltern archiviert haben. Eine der Nonnen, die unter Gewissensbissen leidet, könnte sich Philomena anvertrauen. Möglicherweise haben auch ältere Kinder im Kloster immer die Autokennzeichen der Adoptiveltern notiert. Jedenfalls hat Philomena erstmal zu tun, um deren Adresse ausfindig zu machen.

Das Drama

Irgendwann gelangt sie zum Anwesen der Adoptiveltern. Beim Empfang wird sie gefragt, ob sie sich für die freie Stelle der Haushälterin bewirbt? Philomena bejaht und wird eingestellt. So trifft sie zum ersten Mal auf ihren Sohn. Das ist Suspense. Wir wissen um ihre Gefühle, die sie nicht zeigen darf. In der Folgezeit kämpft Philomena um eine Annäherung. Aber für den verwöhnten Bengel ist sie nur ein Kindermädchen von vielen. Ihre Versuche, eine Nähe aufzubauen, scheitern. Irgendwann wird sie als leibliche Mutter enttarnt.

Klimax

Jetzt ist das Drama komplett: Philomena hat immer davon geträumt, dass ihr eigener Sohn sich in ihre Arme wirft. Stattdessen ist sie für ihn nur eine fremde Frau. Die Adoptivmutter wirft Philomena hinaus. Sie ist am Boden zerstört. Auch ihr Selbstmordversuch scheitert. In der Klinik lernt sie einen durchtriebenen Journalisten kennen. Gemeinsam entwickeln sie einen Plan: Beide geben sich beim Kloster als reiches Paar auf der Suche nach Adoptivkindern aus. Philomena in Verkleidung. Der Deal geht leichter über die Bühne als gedacht. Die Nonnen sind an Geld interessiert, weniger an den Dokumenten des vermeintlichen Paares. Der Journalist veröffentlicht seine Story. Die Polizei ermittelt im Nonnenkloster wegen Sklaverei und Menschenhandel. Gegen die Strippenzieher wird  Anklage erhoben. Sämtliche Adoptionen werden überprüft. Philomena verzichtet auf Ansprüche an ihren leiblichen Sohn. Der Familienrichter spricht ihr das Sorgerecht für ihren adoptierten Sohn zu, zumal deren leibliche Mutter verstorben ist und der Vater auf Ansprüche verzichtet. Möglicherweise verlieben Philomena und der Journalist sich auch ineinander? Das wäre dann die Hollywood-Variante.

Fazit

Der Film verzichtet auf nahezu alle interessanten Aspekte dieses Falls von kirchlich getarntem Menschenhandel. Alle Täter und Mittäter, also die, die ihre Augen verschlossen haben, bleiben hier verschont. So einen mutlosen Film haben die tausenden von Müttern, die auf diese Weise ihre Kinder verloren haben, wahrlich nicht verdient.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 2 blaue Smileys und 5 schwarze traurige Gesichter für Philomena.

Mein bester Freund (Patrice Leconte) F 2006

Die Franzosen haben’s schon drauf! Drehen einfach einen tragikomischen Spielfilm über ein scheinbar banales Thema wie Freundschaft. Mit „Mein bester Freund“ ist Patrice Leconte ein ebenso witziges wie ernsthaftes kleines Meisterwerk gelungen, zudem mit einem klassischen Erzählmotiv: Die Wette. Die wird zwischen dem profitgierigen Kunsthändler Francois Coste (Daniel Auteuil) und seiner Geschäftspartnerin Catherine abgeschlossen, die ihm tiefergehende menschliche Gefühle abspricht. Nun hat er 10 Tage Zeit, um einen echten Freund zu präsentieren. Der Einsatz ist eine teure antike Vase, die – einer Legende nach – der Besitzer nach dem Verlust seines besten Freundes mit seinen Tränen gefüllt hat.

Die Geschichte

Einen Freund aufzutreiben kann doch nicht so schwer sein? Also begibt Francois sich im Bekanntenkreis auf die Suche und erhält eine Abfuhr nach der anderen. Aber noch ist ja Zeit. Francois beginnt zu recherchieren und lernt dabei den sympathischen Taxifahrer Bruno (Danny Boone) kennen, der sich als Quasselstrippe und Wissensfreak entpuppt. Den engagiert Francois als Lehrer. Aber leider suchen alle Menschen das Weite, sobald Francois die erhaltenen Lektionen anwendet. Aber es gibt einen kleinen Nebeneffekt: Bei diesem Nachhilfeunterricht kommt das ungleiche Paar sich näher. 

Freundschaft

Nach der Definition von Catherine ist ein Freund bereit, Risiken für den anderen einzugehen. Also schlägt Francois vor, die antike Vase zu stehlen, um einen Versicherungsschaden vorzutäuschen. Und tatsächlich lässt der gutmütige Bruno sich auf diesen Betrug ein. Als er nachts die Vase entwenden will, wird er jedoch von Francois und anderen Zeugen überrascht. Der reklamiert den Gewinn der Wette für sich, weil Bruno den perfekten Freundschaftsbeweis erbracht hat. Letzterer sieht, dass er nur benutzt wurde, zerschlägt die Vase und verschwindet.

Wer wird Millionär?

Aber die Vase war nur eine Replik, die Catherine hat anfertigen lassen. Die echte überlässt Francois einem Kaufinteressenten, der in seiner Funktion als Fernsehproduzent Bruno in seiner Ratesendung unterbringt. Bei der 1-Million-Euro-Frage zieht Bruno seinen letzten Joker, um eine Spezialfrage aus dem Gebiet der Kunst zu beantworten. Dieser Experte ist natürlich Francois. Bevor der die Frage richtig beantwortet und damit Bruno zum Millionär macht, kommt es vor dem Fernsehpublikum zu einer kontroversen Aussprache zwischen beiden. Danach dauert es ein ganzes Jahr, bis die beiden sich scheinbar zufällig im Restaurant wiedertreffen. Dabei macht Bruno sich über Francois lustig, zahlt es ihm sozusagen mit gleicher Münze heim. Erst jetzt hat ihre Freundschaft ein Fundament.

Figuren

Sehr schön ist das Opening in der Kirche, das Francois treffend charakterisiert: hinterhältig, skrupellos und geldgierig. Überhaupt ist er der stärkere der beiden Hauptfiguren. Sein Sarkasmus ist ebenso herrlich, wie seine Verwunderung angesichts der Erkenntnis, dass niemand etwas näher mit ihm zu tun haben will. Bruno ist so ziemlich das genaue Gegenteil: freundlich, empathisch und hilfsbereit. Er kann aber auch eine kleine Nervensäge sein und beglückt jeden, ob er es nun hören will oder nicht, mit seinem antrainierten lexikalischen Wissen. Dass auch Bruno einen „besten Freund“ sucht, ist eines der kleinen Geheimnisse, die dieser Film immer wieder in petto hat. Er leidet nämlich unter dem Verlust seines besten Freundes, der mit seiner Frau auf und davon ist.

Odd-Couple

Im Grunde agiert hier ein klassisches Odd-Couple-Paar: Zwei völlig gegensätzliche Charaktere, die aufgrund äußerer Umstände, hier: die Wette, aneinander gekettet sind (wie zum Beispiel in „Gloria“ von John Cassavetes oder „Midnight Run“ von Martin Brest). Sehr schön ist auch, dass ihre Annäherung am Ende ohne Rührseligkeit und Pathos auskommt. Das wird ohne viel Aufhebens erledigt, eben so wie Freunde es untereinander handhaben würden.

Definition

Was macht überhaupt einen Freund aus? Wie definiert man Freundschaft? Der Film liefert eine ganze Reihe von Erklärungsmodellen: „Bei Geld hört die Freundschaft auf“ oder „Bei Geld fängt die Freundschaft an“. Bruno meint: „Wenn es (Freundschaft) mit jedem ist, ist es mit niemandem“ oder bei Freundschaft „gibt es keine Hintergedanken“. Damit trifft er natürlich den wunden Punkt von Francois, der die Freundschaft plant, wie einen Kunstdeal. Immerhin lässt der am Ende  mit einem Zitat aus „Der kleine Prinz“ Lernbereitschaft erkennen: „Wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen.“ 

Schwächen

Die Pretitle-Sequenz mit einem statischen Mosaik als Hintergrundbild hätte etwas einfallsreicher gestaltet werden können. Warum nicht ein kleines Kunstwerk zu Beginn – es geht doch hier um Kunst -, wie Ridley Scott es zum Beispiel in „Man on Fire“ demonstriert hat? Das Lampenfieber, das Bruno stets im Scheinwerferlicht befällt, wirkt ein bisschen übertrieben. Catherines Anschaffung einer Kopie der Vase wirkt reichlich unglaubwürdig. Wozu überhaupt? Wäre doch viel dramatischer gewesen, wenn Bruno in seinem Zorn eine 200.000 Euro teure Vase zerstört hätte. Das hätte die Fallhöhe erhöht und am Schluss unsere Ahnung bestätigt, dass bei Geld die Freundschaft anfängt und nicht aufhört. 

Fazit

„Mein bester Freund“ ist ein ebenso schwarzhumoriger wie charmanter Film mit einem philosophischen Hintergrund, der beseelt und zum Nachdenken anregt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für Mein bester Freund.

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Die Kinder des Monsieur Mathieu (Christophe Barratier) F 2004

„Die Kinder des Monsieur Mathieu“ ist ein wundervoller Film mit einem klassischen Erzählmotiv: Gestrandet („Robinson Crusoe“, Castaway“ usw.) Der arbeitslose Musiklehrer Clément Mathieu strandet kurz nach dem 2. Weltkrieg als Aufseher in einem Heim für schwer erziehbare Jungen. Der Film ist eine Hommage an die Rebellion gegen rigide Erziehungsmethoden, an die Kindheit und die Kraft der Musik, die verlorenen Seelen Mut und Selbstvertrauen einflößen kann. Der Film stellt auch einen Haufen benachteiligter Kinder auf ein Podest, macht sie zu Helden und erinnert damit an Truffauts Meisterwerk „Taschengeld“.

Prolog

Auf der DVD gibt es eine sehr schöne Einführung des Schweizer Produzenten Arthur Cohn, der seine Beweggründe darlegt, „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ gegen alle Widrigkeiten zu realisieren. Damit macht Cohn auch auf ein zentrales Motiv des Protagonisten aufmerksam, der immer seine Schlupflöcher gesucht hat, um seine Ziele zu erreichen. Mathieu ist der Anwalt der Aussortierten, die nichts haben, „nur hoffen und träumen können.“ Und mit Mathieu können sie das.

Die Geschichte

Es beginnt damit, dass der erfolgreiche Dirigent Pierre Morhange die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhält. Nach der Beerdigung in Frankreich überreicht ihm sein alter Schulfreund Pépinot das Tagebuch ihres ehemaligen Aufsehers Clément Mathieu. Rückblende. Mathieu tritt eine Stelle als Aufseher in einem Internat für schwer erziehbare Jungen an. Dort führt Direktor Rachin ein rigides Regiment, das bedingungslosen Gehorsam einfordert. Erpressung, Denunziation und Bestrafung sind sein Instrumentarium. 

Der Rebell

Schnell widersetzt Mathieu sich diesen Regeln, indem er den Urheber eines üblen Streiches deckt und ihm eine Chance auf Wiedergutmachung gibt. Im Unterricht nimmt Mathieu die Jungen ernst und fordert sie. Er lässt sie ihre Träume auf einem Zettel aufschreiben. Trotzdem wird er zur Zielscheibe ihres Spotts und ihrer Streiche. Nach dem Diebstahl seiner Aktentasche, die lauter Notenblätter enthält, findet er die Übeltäter in der Toilette. Anstatt sie zu bestrafen, lässt er die Jungen Lieder vorsingen.

Das Talent

Der junge Pierre Morhange muss, nachdem er sich über den Direktor lustig gemacht hat, in den Karzer. Als seine schöne Mutter zu Besuch kommt, verliebt Mathieu sich auf der Stelle in sie. Die Abwesenheit ihres Jungen entschuldigt er mit einer Notlüge, um sie zu schützen. Im Unterricht lässt Mathieu die Jungen einzeln vorsingen und übt mit ihnen. Rachin ist zwar wenig begeistert, lässt den Chor jedoch vorerst gewähren. Mathieu beobachtet, wie Pierre heimlich Passagen einstudierter Lieder nachsingt und ist von seiner Stimme überwältigt. Er fördert den hochtalentierten Jungen und baut ihn als Solosänger in den Chor ein. 

Der Katalysator

Neu im Internat ist der etwas ältere und aggressive Mondain, der Mitschüler und Lehrer drangsaliert. Als Mondain plötzlich verschwindet und mit ihm 2.000 Franc ist Rachin außer sich vor Wut. Er verordnet harte Sparmaßnahmen und verbietet weitere Chorproben. Mathieu geht mit seinen Schülern in den Untergrund. Die Übungen finden nun im Schlafsaal vor dem Zubettgehen statt. Außerdem macht er Pierres Mutter auf die besondere Begabung ihres Sohnes aufmerksam und schlägt den Besuch eines Konservatoriums vor. 

Eifersucht

Pierre reagiert eifersüchtig auf Mathieus Schwärmereien und überschüttet ihn mit dem Inhalt eines Tintenfasses. Der versteht zwar die Gefühle seines Schülers, verbannt ihn aber zur Strafe aus dem Chor. Aber auch Mathieus Gefühle erhalten einen Dämpfer. Die Mutter hat jetzt einen jüngeren Freund und geht auf seine Avancen nicht ein. Als die Mäzenin des Internats zu Besuch kommt, ist die Darbietung des Chors ein voller Erfolg. Dazu trägt vor allem Pierres Soloeinlage bei, dem Mathieu verziehen hat.

Showdown

Die gestohlenen 2.000 Franc werden bei einem anderen Schüler entdeckt. Die Unschuld Mondains interessiert Rachin allerdings nicht. Er ist mehr an einer Auszeichnung interessiert, die ihm in Lyon überreicht werden soll. In seiner Abwesenheit wird das Internat von Mondain in Brand gesetzt. Rachin wirft Mathieu Verletzung seiner Aufsichtspflicht vor und entlässt ihn. Er darf sich noch nicht einmal von seinen Schülern verabschieden. Als Mathieu vor den Mauern des Internats zum Bus geht, begleitet ihn der Gesang seiner Schüler und Papierflugzeuge mit Grußbotschaften, die aus den Fenstern auf ihn herabschweben. Das Ende wirkt eher wie ein Traum: Mathieu nimmt Vollwaise Pépinot mit auf seine Reise.

Stärken

Clément Mathieu liebt seine Schüler und seinen Beruf. Er nimmt die  Kinder ernst und fordert sie. Das ist genau das, was sie brauchen und sie wollen ihn unter keinen Umständen enttäuschen. Wie seine Chorknaben voller Inbrunst singen, das ist einfach schön. Ein Lehrstück für Pädagogik. Der Film ist auch brillant fotografiert und bis in die kleinsten Nebenrollen herausragend besetzt. Im Gesicht des aggressiven Mondains spiegelt sich die ganze Hoffnungslosigkeit verkorkster Jugendfürsorge. Der Film beschönigt nichts. Er zeigt die Kinder wie sie sind, in ihrer Verspieltheit, Direktheit und auch in ihrer Brutalität. Gut auch, dass Themen wie Missbrauch und Suizid nicht verschwiegen, aber nur angerissen werden. Sie hätten die eigentliche Geschichte und ihren positiven Grundtenor zerstört (s.a. Hitchcocks Anmerkungen zum Verrat am Kino).

Antagonist

Von diesem Antagonisten hätte sich „Thelma – Rache war nie süßer“ nur eine kleine Scheibe abschneiden müssen. Rachin begrüßt Mathieu im Internat mit der zynischen Bemerkung, dass er seine Ideale hier schnell verlieren werde. „Aktion – Reaktion“ ist sein Diktum. Was er darunter versteht, erfährt man sofort: Gnadenlose Bestrafung für die (vermeintlichen) Querulanten. Mit Sarkasmus geizt er nicht: „Nie werden Sie einen anständigen Ton aus denen rauskriegen.“ Rachin schämt sich auch nicht, den Erfolg des Chores als den eigenen auszugeben. Er ist einfach ein wundervoller Bösewicht.

Schwächen

Einziger Schwachpunkt: Mathieu macht eigentlich alles richtig. Nur ein einziges Mal, als er Opfer seiner Gefühle wird und Pierre bestraft, fällt ein Schatten auf sein Handeln. Die Vergebung lässt nicht lange auf sich warten.

Fazit

„Die Kinder des Monsieur Mathieu“ von Christophe Barratier ist ein bewegender Film, der unsere Seele berührt und Hoffnung schenkt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "Die Kinder des Monsieur Mathieu".

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Triangle of Sadness (Ruben Östlund) S, GB, USA 2022

Der 2. Teil dieser Tragikomödie spielt auf einer Luxusyacht und ist der beste des Dreiakters. Richtig Freude bereitet „Triangle of Sadness“, wenn er ganz ruhig die Marotten der betuchten Gästen und der Crew beobachtet. Die Schauspieler sind auch hervorragend besetzt. In seinen schönsten Momenten erinnert der Film dann an „Die Ferien des Monsieur Hulot“ von Jacques Tati. Aber dann gerät die Sache sprichwörtlich aus dem Ruder. Ein Sturm sorgt für Schieflage. Exzessives Saufen, Gekotze, Überflutung durch Exkremente und eine Explosion führen zum Untergang der Yacht und der „Geschichte“. 

Dramaturgie

„Triangle of Sadness“ hat, genauso wie „Spotlight“, keine Geschichte, kein klassisches Erzählmotiv, keine Hauptperson, keine Spannung, keinen Suspense. Es fehlen also die elementarsten Zutaten für die Herstellung eines unterhaltsamen Spielfilms. Im 3. Akt „Die Insel“ verkommt der Film dann zur verquasten Kapitalismuskritik. Künstlichkeit und erzählerische Konstruktionen haben das Kommando übernommen. Die bemühte Umkehrung der Machtverhältnisse – Putzfrau Abigail hat jetzt das Sagen – ist eigentlich ein Plädoyer für den Kapitalismus. Unter ihrem Regime herrschen Neid, Missgunst, Diebstahl, Korruption, Prostitution und Mordgedanken. Wer will damit zu tun haben? Da verweilt man doch lieber auf einer Luxusyacht mit Champagner schlürfenden Geldsäcken. 

Die Figuren

Anfangs konzentriert sich der Film auf das Modelpaar Yaya und Carl. Die sind zwar nicht interessant, aber hübsch und präsent. Auf der Yacht bietet „Triangle of Sadness“ dann ein ganzes Bataillon an Personen auf: Den versoffenen Kapitän, den stinkreichen Russen Dimitry, die nicht minder betuchte Therese, den IT-Experten Jarmo usw. Eine Hauptperson ist nicht mehr auszumachen. Konflikte reduzieren sich auf folgendes Niveau: Carl beschwert sich bei der Crew, weil einer ihrer Mitglieder sich halbnackt an Bord gezeigt hat. Der alkoholisierte Kapitän kommt nicht aus seiner Kajüte. Die Gattin eines Düngemittelproduzenten nötigt die gesamte Besatzung, im Meer zu baden. Tja, das ist allenfalls amüsant, aber doch nicht spannend oder ergreifend. Mit wem sollen wir mitfiebern, wenn es keine(n) interessanten Helden gibt (s. „Spotlight“)?

Stilmittel

Unappetitliche Zutaten wie Erbrochenes, Fäkalien usw. ins Spiel zu bringen oder wenig subtile wie Explosionen, Tötung von Tieren ist legitim, wenn sie denn einen erzählerischen Mehrwert darstellen. Allerdings sollten sie uns dann nicht wie „Kai aus der Kiste“ nach der Hälfte des Films überraschen, sondern sofort als durchgängiges Gestaltungsmittel etabliert werden. Nicht nur „Parasite“ von Bong Joon-ho, der nach der Hälfte von einer schwarzhumorigen Satire zum Schlitzerfilm mutiert, sollte ein warnendes Beispiel sein. 

Ungereimtheiten

Die Crew spricht griechisch. Die Vegetation der Insel im 3. Akt deutet auf die Ägäis hin. Aber seit wann gibt es dort Piraten? Wieso werfen die überhaupt eine Handgranate an Bord? Üblicherweise rauben sie doch Passagiere und Besatzung aus oder erpressen Lösegelder, aber versenken doch nicht ihre Beute. Wieso erforschen die Gestrandeten die Insel erst gegen Ende des Films? Was macht ein fliegender Händler an einem völlig vereinsamten Strand?

Fazit

Wie Gesellschaftskritik in einen witzigen, bösen Film transformiert werden kann, hätte der Regisseur zum Beispiel an Hand von Lubitschs „Ninotschka“ studieren können. Aber der hat auch eine Geschichte, ein Erzählmotiv, taugliche Hauptfiguren, innere Konflikte, existenzielle Gefahren, bissige Dialoge usw. Wie kommt man überhaupt darauf, dass die Verbreitung von politischen Haltungen Auswirkung auf die Qualität einer Geschichte haben könnte? So mutet das Ganze eher wie ein „Bermuda Triangle“ an.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 2 blaue Smileys und 5 schwarze traurige Gesichter für "Triangle of Sadness".

Back in the Game (Robert Lorenz) USA 2012

„Back in the Game“ ist eine leidlich spannende Tragikomödie im Baseballmilieu mit Clint Eastwood in der Hauptrolle. Wie in den Meisterwerken „Gran Torino“ oder „The Mule“ werden auch hier seine eigenen defizitären Vaterpflichten thematisiert. Den erzählerischen Hintergrund bilden berufliche Intrigen einer Scoutingfirma sowie einer Anwaltskanzlei. Spannungstechnisch kann diese Folie aber nicht mit den Thrillerebenen der beiden oben genannten Meisterwerke mithalten.

Die Geschichte

Der alternde, griesgrämige Baseball-Talentsucher Gus Lobel (Clint Eastwood) leidet unter einer Augenmakulatur, die er seinem Boss lieber verheimlicht. Damit wird es für ihn natürlich schwierig, junge Talente zu sichten. Tochter Mickey (Amy Adams), erfolgreiche Anwältin in einer Kanzlei, nimmt sich Urlaub, um dem Rauhbein unter die Arme zu greifen. Klar, dass der sture Bock („ungenießbar wie immer“) ihre Hilfe ablehnt. Immerhin lernt sie bei ihren Bemühungen den jungen Scout Johnny Flanagan (Justin Timberlake) kennen, der einst von Gus als Spieler entdeckt wurde. Beide Talentsucher sind sich in ihrer ablehnenden Bewertung des arroganten Shootingstars Bo Gentry einig. Nachdem dieser doch von Gus’ Firma verpflichtet wird, fühlt Johnny sich verraten, bis sich das Missverständnis klärt.

Die Vorgeschichte

Gus’ Ehefrau verstarb, als Mickey gerade mal sechs Jahre alt war. Der alleinerziehende, überforderte Vater schickte sie zunächst in die Obhut seines Bruder, später aufs Internat. Deshalb fühlt Mickey sich Zeit ihres Lebens vom Vater abgelehnt und verstoßen. In einer Schlüsselszene werden ihre Vorwürfe und Schmerzen transparent: „Nur ein Feigling lässt sein Kind allein“. Gus erklärt sein scheinbar abweisendes Verhalten mit einem sexuellen Übergriff, den Mickey als kleines Mädchen erleiden musste. Den Straftäter hat Gus zwar krankenhausreif geschlagen, aber das hat ihn nicht von seinen Schuldgefühlen befreit. Ihre Abschiebung war nichts weiter als ein Eingeständnis seiner Hilflosigkeit, die eigene kleine Tochter nicht beschützen zu können. Die Aufdeckung der dramatischen Backstory bietet beiden die die Chance für einen Neuanfang.

Dramaturgie

Wenn Verlauf und Ende einer Geschichte vorhersehbar sind, dann ist das natürlich dramaturgisch nicht so toll. Als geübter Zuschauer weiß man viel zu früh, dass Mickey nicht bei ihrem schnöseligen Freund bleiben und auch keine Karriere in dieser smarten Anwaltskanzlei machen wird. Man weiß, dass Vater und Tochter sich – trotz verbaler Streitigkeiten – im Grunde lieben. Man ahnt, dass Mickey und Johnny am Ende zusammenkommen. Wenn all diese Erwartungen dann auch noch eintreten, steigert das nicht gerade die Spannungskurve. Desgleichen sind einige Figuren nicht gerade subtil skizziert: die arroganten Rivalen von Gus und Mickey, der übergriffige Partner beim Billardspielen, der großkotzige Shootingstar beim Baseball. Man weiß einfach, dass diese Typen am Ende nicht als Sieger vom Platz gehen werden. 

Ungereimtheiten

Schwer zu glauben, dass ein 6-jähriges Mädchen sich nicht mehr an einen sexuellen Übergriff erinnern kann. Besser wäre es gewesen, diese Erinnerungslücke mit einer Verdrängung zu erklären, also mit einer seelischen Schutzmaßnahme. Ein Zufall ist immer ein erzählerisches Manko. Schon kurios wie Mickey gegen Ende des Films förmlich über den talentierten Pitcher „Erdnussboy“ vor ihrem Hotel stolpert. Da hätten die Macher sich etwas mehr Mühe geben können. Auch ihr abrupter Berufswechsel in die Welt des Baseballs wirkt ein bisschen konstruiert.

Fazit

Insgesamt überwiegt das Positive. Die Dialoge sind manchmal hart, manchmal witzig, aber meistens pointiert. Mit Mickey Lobel gibt es eine starke Frauenfigur, die schlagkräftig und frech die Männer in ihre Schranken weist. Es ist kein großer Wurf, aber mit seiner tollen Filmmusik und seinem Happy End verbreitet „Back in the Game“ einfach gute Stimmung. Null Punkte auf der Defätismusskala.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 4 blaue Smileys und 3 schwarze traurige Gesichter für "Back in the Game".

Liebe und andere Grausamkeiten (Denys Arcand) CND 1993

„Liebe und andere Grausamkeiten“ von Denys Arcand ist eine Tragikomödie über eine Gruppe von Mittzwanzigern auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit. Es ist eine Art Reigen über die Flüchtigkeit von Begegnungen im großstädtischen Montreal. In seiner Anlage erinnert der Film an „Der Eissturm“ von Ang Lee, der den Fokus allerdings auf pubertierende Jugendliche in gutbürgerlichem Milieu legt und im ländlichen Neuengland spielt.

Figuren

Alle Figuren, auch wenn sie es teilweise negieren, sind auf der Suche nach Liebe und ihrem Platz im Leben. Dabei agieren sie weitgehend orientierungslos und stehen sich selbst im Wege. Der schwule David (Thomas Gibson) ist ein ehemaliger Schauspieler, verdient seine Brötchen als Kellner und lebt mit der Literaturkritikerin Candy (Ruth Marshall) in einer Zweck-WG. Beide hatten mal etwas miteinander, aber David ist eigentlich vom anderen Ufer und Candy weiß nicht so genau, was sie will. Gefühlschaos pflastert ihren Weg – so könnte man ihre Befindlichkeiten und Anstrengungen definieren.

Stärken

Ab und zu schimmern Denys Arcands Fähigkeiten durch. Es gibt ein paar skurrile, überraschende Situationen und Dialoge, zum Beispiel wenn David seiner Freundin Benita bei Sadomaso-Spielchen mit einem Kunden als weiß gekleideter Sheriff unter die Arme greift. Zumindest der Schluss des Films vermittelt ein wenig Hoffnung: Candy und der Hilfskellner Kane begleiten David zu einem Castingtermin. In diesem Moment stehen sie einander bei.

Schwächen

„Liebe und andere Grausamkeiten“ hat keine Geschichte. Er beleuchtet eine Phase im Leben der Protagonisten. Es hätte aber auch ein anderes Zeitfenster sein können. Der Film konzentriert sich nicht, weder auf dass, was er vielleicht erzählen will, noch auf seine Figuren. Davon laufen auch viel zu viele herum, dazu noch in wechselnden Outfits, so dass man irgendwann den Überblick verliert: Wer war das denn jetzt? Das Chaos überträgt sich. Mit wem oder was soll der Zuschauer denn hier mitzittern?

Wirrwarr

Völlig wirr wird das Geschehen mit dem etablierten Serienkiller. Der hat eigentlich keine erzählerische Funktion. Man fragt sich nur, warum junge Frauen wiederholt allein völlig einsame Straßen entlang gehen? Am Ende entpuppt sind der eher biedere Beamte Bernie als Täter, der aus unerfüllter Liebe zu David gemordet hat und sich nach seinem Geständnis von einem Hochhaus in die Tiefe stürzt. Völlig hanebüchen.

Lösungen

Die Orientierung an einem klassischen Erzählmotiv hätte dem Film Struktur verliehen. Mal angenommen, David und Candy hätten anfangs eine Wette abgeschlossen, ähnlich wie in „Gefährliche Liebschaften“? Gegenstand ihrer Wette hätte zum Beispiel die Suche nach der „wirklichen Liebe“ sein können. Denn nach Davids Überzeugung gibt es so etwas nicht. Jedenfalls hätte es dann immer Suspense gegeben, heißt: Der Zuschauer hätte immer mehr Informationen gehabt, als Teile der handelnden Personen. Das wäre dramaturgisch richtig gewesen. Am Ende wären David und Candy dann ein Paar geworden, womit beide die Wette verloren, aber aneinander gewonnen hätten. Im Grunde ist diese Wendung in den Figuren auch angelegt, denn sie vertrauen sich, haben Respekt und Verständnis füreinander. Dabei spielt die Zuneigung oder die Neugier am gleichen Geschlecht eine untergeordnete Rolle. Des weiteren müsste man den Serienkiller entfernen. Er hat in dieser Tragikomödie überhaupt nichts verloren.

Fazit

Denys Arcand hat diesen wunderbaren Film „Der unverhoffte Charme des Geldes“ gedreht. Da denkt man denn, dass andere Werke des Regisseurs von ähnlicher Qualität sein müssten. Sind sie leider nicht. In „Liebe und andere Grausamkeiten“ dominiert die Verwirrung. 

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 2 blaue Smileys und 5 schwarze traurige Gesichter für "Liebe und andere Grausamkeiten".

Die andere Seite der Hoffnung (Aki Kaurismäki) FIN 2017

„Die andere Seite der Hoffnung“ ist zu einem Teil ein in Helsinki angesiedeltes Flüchtlingsdrama, zum anderen eine melancholische Tragikomödie. Seine Qualitäten bezieht der Film aus seinen originellen Figuren und vor allem aus ihren Entwicklungen. Das sind seine stärksten Momente. Leider schafft Aki Kaurismäki es nicht, die Spannung zu eskalieren. Das verhindert die mangelnde Konzentration auf den Helden, das eher gemächliche Erzähltempo, die tableauhaften Inszenierungen und die Stilisierungen. Alles ziemlich künstlich hier.

Die Geschichte

Khaled Ali landet als blinder Passagier in Helsinki, wo er Asyl beantragt. Leider wird seine Heimatstadt Aleppo von der Ausländerbehörde nicht als Krisengebiet eingestuft. Khaled flüchtet, um seiner Abschiebung zu entgehen, und nächtigt hinter Müllcontainern von Waldemar Wikströms neuem Restaurant. Der hilft ihm mit einem Job und gefälschtem Ausweis. Auch zu den übrigen Angestellten des Lokals entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis.  Gemeinsam helfen sie Khaled, seine geliebte Schwester in einem Flüchtlingslager ausfindig zu machen und illegal ins Land zu schmuggeln. Am Ende wird Khaled vor seinem Versteck von einem Rechtsradikalen niedergestochen. 

Visualität

Wie in allen Filmen von Aki Kaurismäki wird auch in „Die andere Seite der Hoffnung“ nicht viel gesprochen. Die Handlungsabläufe sind visuell. Das ist ein großer Vorzug. Wenn Waldemar sich anfangs von seiner alkoholkranken Frau trennt, dann geschieht das wortlos. Man hat sich eben nichts mehr zu sagen. Das verleiht dieser Szene, wie auch einigen anderen, eine noch eine größere Intensität. Wenn mal gesprochen wird, dann häufig auf lakonische Weise.

Die Figuren

Das ist eine der großen Stärken von Aki Kaurismäki: Die Etablierung origineller, prägnanter Figuren. Da spürt man die Schicksale, die sich in den Furchen ihrer Gesichter eingegraben haben. Man schaut ihnen gerne zu. Die schönsten Momente hat der Film, wenn er seinen Figuren eine Entwicklung gönnt. Anfangs behauptet Waldemar, keine Freunde zu haben. Gegen Ende greift er Khaled und seinen Angestellten immer wieder unter die Arme. Auch der Hund soll aus dem Restaurant verschwinden. Am Ende ist er immer noch da und niemand stört sich daran. Eine skurrile Solidargemeinschaft hat sich hier entwickelt. Das ist schön!

Schwächen

Es gibt keinen eindeutigen Helden. Das ist auch in dieser Geschichte ein Nachteil. Das Changieren zwischen Khaled und Waldemar führt zu einer Reduktion der Emotionen. Mit wem sollen wir hier mitzittern? Die alternierende Erzählweise führt auch dazu, dass wir nicht allzu viel über die Protagonisten erfahren: Der Preis der Mehrfachperspektive. Es gibt eine sehr schöne Szene in der Ausländerbehörde, als die Beamtin Khaled nach seiner Vergangenheit befragt. Die traumatischen Erlebnisse mit dem Verlust fast aller seiner Familienangehörigen spiegelt sich in seinem Gesicht wider. Von derart berührenden Szenen hätte man gern mehr gesehen.

Stilisierung

Das ganze Ambiente von „Die andere Seite der Hoffnung“ wirkt sehr künstlich, was manchmal durchaus witzig ist. Wenn Waldemar sich von seiner Frau trennt, steht ein voluminöser Kaktus auf dem Tisch. Das Symbolhafte ist Kaurismäki wichtiger als die Authentizität. Man ahnt – eigentlich weiß man es, dass es so nicht einem Flüchtlingsheim zugeht, dass auch finnische Restaurants anders aussehen. Diese Stilisierung hat etwas Märchenhaftes und hat Anteil an der Distanzierung zum Geschehen, am durchschnittlichen Emotionslevel. Man fragt sich auch, was das soll? Welchen Vorteil hat diese Künstlichkeit? Warum kein authentisches Ambiente, was eigentlich viel besser zum realistischen Grundtenor der Geschichte gepasst hätte?

Finale

Das Ende ist ganz schwach. Es ist ein „Deus ex machina“, eine künstliche Dramatisierung. Die rechtsradikalen Dumpfbacken, die Khaled abstechen, haben eigentlich nichts mit der Geschichte zu tun. Viel besser wäre es gewesen, eine Eskalation der Ereignisse aus den beigefügten Zutaten zu erzielen. Fragwürdig ist auch Khaleds letzte Hilfestellung für seine Schwester, der er schwerverletzt den Weg zum Polizeirevier zeigt. Als ob sie den nicht selber finden könnte? Wohin dieser Weg führt, nämlich zur Abschiebung, hat er doch am eigenen Leib erfahren. So wird die „Hoffnung“ am Ende beseitigt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 4 blaue Smileys und 3 schwarze traurige Gesichter für "Die andere Seite der Hoffnung.

The Holdovers (Alexander Payne) USA 2023

„The Holdovers“ ist eine hervorragende Tragikomödie, in der die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft erzählt wird. Wieder einmal stellt Alexander Payne („About Schmidt“) seine Qualitäten in der Beobachtung menschlicher Schicksale, der Entwicklung von originellen Figuren und Dialogen sowie der Etablierung glaubhafter erzählerischer Wendungen unter Beweis. Hier stimmt einfach alles, angefangen von der gediegenen Atmosphäre der elitären Barton-High-School im winterlichen Neuengland der 70er Jahre bis hin zur Ausstattung, der Kameraarbeit und der Filmmusik.

Die Figuren

Das ist schon genial, wie Paul Giamatti die Rolle des griesgrämigen Geschichtslehrers Paul Dunham, Fachgebiet: Antike Zivilisationen, mit Leben füllt. „Glubschauge“, so sein Spitzname, ist bei Schülern und Kollegen gleichermaßen unbeliebt. Paul ist ein Einzelgänger und Zyniker. Integrität ist nach seinen Beobachtungen „eine Posse“ und Werte existieren nur noch „auf Bankkonten“. Anfangs verteilt er genüsslich schlecht benotete Klassenarbeiten an seine Schüler, nicht ohne zusätzliche Hausaufgaben einzufordern, um bei nächsten Prüfungen besser abzuschneiden. 

Der Unbestechliche

Das steigert natürlich nicht seine Beliebtheit, was Paul aber eher Freude zu bereiten scheint. Er hat also eine kleine sadistische Ader. Zum Glück beschränkt sich Pauls Widerborstigkeit nicht nur auf seine Schülerschaft. Auch mit der Schulleitung hat er Ärger, da er den Sohn eines wohlhabenden Spenders der High School durch eine Prüfung hat fallen lassen. Paul ist nicht korrumpierbar. Zur Strafe muss er nun über die Weihnachtsferien eine Handvoll Schüler beaufsichtigen. Das sind die „Holdovers“ (zu deutsch: Überbleibsel), die Aussortierten, die aus unterschiedlichen Gründen nicht nach Hause können.

Odd Couple

„The Odd Couple“ ist ein Theaterstück von Neil Simon und Bezeichnung einer Charakter-Konfiguration, in der äußere Umstände völlig unterschiedliche Figuren eine Zeit lang aneinander kettet. Das impliziert natürlich dramatisches Potenzial. Nachdem vier der fünf Aussortierten doch noch unterkommen, verbleibt nur noch der ebenso aufgeweckte wie renitente 17-jährige Schüler Angus Tully (Dominic Sessa). Und der findet seinen Lehrer schlicht widerlich: „Ich dachte, die Nazis verstecken sich alle in Argentinien.“ Die Konflikte sind also vorprogrammiert und werden fachgerecht erst am Ende beigelegt.

Der Katalysator

Die dritte im Bunde ist die korpulente schwarzafrikanische Köchin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph). Ihr Sohn Curtis, ehemaliger Schüler der Barton-High-School, der aber kein Geld fürs College hatte, ist gerade in Vietnam gefallen. Auch ihr enormer Whiskykonsum kann ihr nicht über den Verlust hinweghelfen. Trotz ihrer seelischen Notlage ist Mary ein wichtiger Katalysator. Sie ist es, die den scheinbar verbitterten Paul zum Nachdenken bringt: „Was stimmt nicht mit Ihnen?“ Und Paul ist klug genug, diese Anregung genauso anzunehmen wie ihren dargebotenen Whisky.

Die Geschichte

Im Grunde ist es ein Haufen verletzter Seelen, der hier im altehrwürdigen Gemäuer der High School eingepfercht ist. Es dauert ein bisschen, bis sich die Freundschaft zwischen Paul und Angus entwickeln kann. Eigentlich fängt es mit einer ausgekugelten Schulter an, die Angus sich trotz Verbots in der Turnhalle zugezogen hat. Im Krankenhaus schützt er Paul mit einer Notlüge, der ansonsten Ärger wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht bekommen hätte.

Nachdem Paul sein Verhalten überdenkt, lässt er sich sogar zu einer Spritztour nach Boston überreden. Dort besucht Mary ihre schwangere Schwester und Angus seinen Vater, der angeblich verstorben ist, tatsächlich aber in einem Pflegeheim lebt. Wieder eine dieser Wendungen. Dieser Besuch hat allerdings unangenehme Konsequenzen, denn der psychisch kranke Vater reagiert verwirrt und aggressiv, weshalb Angus zur Strafe nun auf eine Militärakademie soll. Das kann Paul verhindern, indem er die Schuld an diesem Ausflug auf seine Kappe nimmt. Denn das hat er inzwischen von Angus gelernt: Manchmal kann eine Notlüge hilfreicher sein als die Wahrheit. 

Dramaturgie

In „The Holdovers“ gibt es zwar keine lebensbedrohlichen Situationen, keine Verfolgungsjagden oder Schießereien. Muss ja auch nicht. Ist ja auch kein Actionfilm oder Thriller. Dafür hat Alexander Payne immer überraschende Wendungen parat, die glaubhaft in der Geschichte und ihren Figuren verankert sind. Er schafft es, ihre Gefühle mit unseren zu synchronisieren. Jedem Hochgefühl folgt eine Enttäuschung, ein Konflikt mit neuen Herausforderungen und Hindernissen. Nach einer Feel-Good-Sequenz folgt das Drama und umgekehrt. So ist das richtig. Wenn Paul sich zum Beispiel für die Weihnachtsfeier der sympathischen Schulsekretärin Lydia Crane zurechtmacht, schwingt da seine Hoffnung auf eine Beziehung mit. Der Zuschauer hofft mit ihm, bis zu später Stunde Lydias Freund erscheint. 

Finale

Am Ende muss Paul die High School verlassen, während Angus verbleiben darf. Das ist das Drama: In dem Moment, wo beide sich angefreundet haben, trennen sich ihre Wege. „Es ist das rechte Auge, in das man gucken muss“, verrät „Glubschauge“ dem Jungen zum Abschied. Das Drama hat aber auch gleich wieder eine Wendung parat. Denn zum einen wird Angus nicht auf die Militärakademie strafversetzt, was 1971 in den USA tödlich enden kann (s. Marys Sohn), zum anderen ist es für Paul vielleicht auch mal an der Zeit, etwas Neues in seinem Leben zu beginnen. Es gibt also Hoffnungen und das ist schön. „The Holdovers“ ist eine kleine Filmperle.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "The Holdovers".

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Ein leichtes Mädchen (Rebecca Zlotowski) F 2019

Was für eine wundervolle kleine Coming-of-Age-Geschichte! Bei deren Entwicklung hat die französische Regisseurin Rebecca Zlotowski sich von einem Zeitungsartikel inspirieren lassen. Heldin ist die 16-jährige Naïma (Mina Farid), die im südfranzösischen Cannes lebt. Im Voiceover bekommen wir Einblicke in ihr Leben. Zusammen mit Freund Dodo interessiert sie sich für Schauspielerei, aber eigentlich auch nicht so richtig. Es sind Sommerferien und sie lässt sich erstmal treiben, bis ihre sechs Jahre ältere Cousine Sofia aus Paris zu Besuch kommt. Die ist „Ein leichtes Mädchen“, verdient ihr Geld wahrscheinlich als Edelprostituierte und ist so ungefähr das Gegenteil von der eher braven und schüchternen Naïma. Das ist sehr schön kontrastiert und deshalb erzählerisch ertragreich.

Die Geschichte

Jedenfalls ist Naïma fasziniert von der erfahrenen, freizügigen Cousine und begibt sich gern in deren Kielwasser. Sofia glaubt nicht an die Liebe, sondern an den nächsten Kick: „Du musst die Dinge immer selbst bestimmen.“ Ein Resultat ist die Einladung auf die Motoryacht von Eigner Andres und seinem Adlatus Philippe. Sofia hat keine Probleme, sich in der Welt der Reichen zu bewegen. Für teure Geschenke nächtigt sie auf der Yacht, während Naïma sich hin- und hergerissen fühlt. Bei einem Bootsausflug flirtet sie mit Philippe. Doch der hält sie auf Distanz. Als Andres der beiden Mädchen überdrüssig wird, lässt er einen kostbaren Sextanten verschwinden und beschuldigt Sofia und Naïma des Diebstahls. Beide müssen die Yacht verlassen.

Die Figuren

Mit den unterschiedlichen Reaktionen der beiden Mädchen auf diesen Rauswurf stellt der Film auch gleichzeitig Sofias Liebes- und Lebensmodell in Frage: Während Naïma sich über diese Ungerechtigkeit empört, ist Sofia zutiefst verletzt. Für ihre Hingabe ist sie zwar mit teuren Geschenken belohnt, aber am Ende wie der letzte Dreck behandelt worden. Auch die Brüchigkeit ihres Charakters ist einer der Stärken dieses Films. Wenn die coole, selbstsichere Fassade bröckelt, wird ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit transparent.

Der Schutzengel

Kinder, Jugendliche, auch Heranwachsende brauchen manchmal einen Schutzengel, um unbeschadet durchs Leben zu kommen. Naïma hat das Glück, auf Philippe zu treffen, der als eine Art Manager für Yachtbesitzer Andres fungiert. Der charakterisiert seinen Freund Philippe so: „Er erkennt den Wert der Dinge.“ Nicht nur der Dinge, müsste man ergänzen. Schon beim ersten Besuch auf dem Schiff, als Naïma auf einem Sofa einschläft, deckt er sie mit einer Wolldecke zu. Später schützt er Naïma, indem er ihre Avancen zurückweist: „Du bist noch ein Kind.“ Gleichwohl erweist er ihr Respekt und Würde, indem er einen der Bediensteten auffordert, sich für einen Rüffel bei Naïma zu entschuldigen: „Sie ist unser Gast.“

Philippe hat auch den Mut, Andres die Stirn zu bieten, nachdem dieser die beiden Mädchen fälschlicherweise des Diebstahls bezichtigt und entzieht ihm die Freundschaft: „Nenn’ mich nie wieder Sokrates.“ Beim Abschied in der Marina stärkt er Naïmas Selbstvertrauen, indem er ihr „Charakterstärke“ attestiert. Philippe hat Anteil an ihrem Erwachsenwerden. Ihm ist auch der Film gewidmet, wie wir im Nachspann erfahren.

Finale

Am Ende tritt Naïma ihre Ausbildung als Köchin an. Sie entscheidet sich – erstmal – für das Bodenständige. „Bist du bereit, Chefin?“ fragt Ihr Ausbilder sie am ersten Arbeitstag. „Ja, ich bin bereit“, kommt ihre Antwort – ohne Umschweife, klar und deutlich. „Ein leichtes Mädchen“ ist ein filmisches Schwergewicht und demonstriert auch, welche Bedeutung dem 6. Baustein der „7 Säulen der Filmgestaltung“ zukommt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "Ein leichtes Mädchen".

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