Mein bester Freund (Patrice Leconte) F 2006

Die Franzosen haben’s schon drauf! Drehen einfach einen tragikomischen Spielfilm über ein scheinbar banales Thema wie Freundschaft. Mit „Mein bester Freund“ ist Patrice Leconte ein ebenso witziges wie ernsthaftes kleines Meisterwerk gelungen, zudem mit einem klassischen Erzählmotiv: Die Wette. Die wird zwischen dem profitgierigen Kunsthändler Francois Coste (Daniel Auteuil) und seiner Geschäftspartnerin Catherine abgeschlossen, die ihm tiefergehende menschliche Gefühle abspricht. Nun hat er 10 Tage Zeit, um einen echten Freund zu präsentieren. Der Einsatz ist eine teure antike Vase, die – einer Legende nach – der Besitzer nach dem Verlust seines besten Freundes mit seinen Tränen gefüllt hat.

Die Geschichte

Einen Freund aufzutreiben kann doch nicht so schwer sein? Also begibt Francois sich im Bekanntenkreis auf die Suche und erhält eine Abfuhr nach der anderen. Aber noch ist ja Zeit. Francois beginnt zu recherchieren und lernt dabei den sympathischen Taxifahrer Bruno (Danny Boone) kennen, der sich als Quasselstrippe und Wissensfreak entpuppt. Den engagiert Francois als Lehrer. Aber leider suchen alle Menschen das Weite, sobald Francois die erhaltenen Lektionen anwendet. Aber es gibt einen kleinen Nebeneffekt: Bei diesem Nachhilfeunterricht kommt das ungleiche Paar sich näher. 

Freundschaft

Nach der Definition von Catherine ist ein Freund bereit, Risiken für den anderen einzugehen. Also schlägt Francois vor, die antike Vase zu stehlen, um einen Versicherungsschaden vorzutäuschen. Und tatsächlich lässt der gutmütige Bruno sich auf diesen Betrug ein. Als er nachts die Vase entwenden will, wird er jedoch von Francois und anderen Zeugen überrascht. Der reklamiert den Gewinn der Wette für sich, weil Bruno den perfekten Freundschaftsbeweis erbracht hat. Letzterer sieht, dass er nur benutzt wurde, zerschlägt die Vase und verschwindet.

Wer wird Millionär?

Aber die Vase war nur eine Replik, die Catherine hat anfertigen lassen. Die echte überlässt Francois einem Kaufinteressenten, der in seiner Funktion als Fernsehproduzent Bruno in seiner Ratesendung unterbringt. Bei der 1-Million-Euro-Frage zieht Bruno seinen letzten Joker, um eine Spezialfrage aus dem Gebiet der Kunst zu beantworten. Dieser Experte ist natürlich Francois. Bevor der die Frage richtig beantwortet und damit Bruno zum Millionär macht, kommt es vor dem Fernsehpublikum zu einer kontroversen Aussprache zwischen beiden. Danach dauert es ein ganzes Jahr, bis die beiden sich scheinbar zufällig im Restaurant wiedertreffen. Dabei macht Bruno sich über Francois lustig, zahlt es ihm sozusagen mit gleicher Münze heim. Erst jetzt hat ihre Freundschaft ein Fundament.

Figuren

Sehr schön ist das Opening in der Kirche, das Francois treffend charakterisiert: hinterhältig, skrupellos und geldgierig. Überhaupt ist er der stärkere der beiden Hauptfiguren. Sein Sarkasmus ist ebenso herrlich, wie seine Verwunderung angesichts der Erkenntnis, dass niemand etwas näher mit ihm zu tun haben will. Bruno ist so ziemlich das genaue Gegenteil: freundlich, empathisch und hilfsbereit. Er kann aber auch eine kleine Nervensäge sein und beglückt jeden, ob er es nun hören will oder nicht, mit seinem antrainierten lexikalischen Wissen. Dass auch Bruno einen „besten Freund“ sucht, ist eines der kleinen Geheimnisse, die dieser Film immer wieder in petto hat. Er leidet nämlich unter dem Verlust seines besten Freundes, der mit seiner Frau auf und davon ist.

Odd-Couple

Im Grunde agiert hier ein klassisches Odd-Couple-Paar: Zwei völlig gegensätzliche Charaktere, die aufgrund äußerer Umstände, hier: die Wette, aneinander gekettet sind (wie zum Beispiel in „Gloria“ von John Cassavetes oder „Midnight Run“ von Martin Brest). Sehr schön ist auch, dass ihre Annäherung am Ende ohne Rührseligkeit und Pathos auskommt. Das wird ohne viel Aufhebens erledigt, eben so wie Freunde es untereinander handhaben würden.

Definition

Was macht überhaupt einen Freund aus? Wie definiert man Freundschaft? Der Film liefert eine ganze Reihe von Erklärungsmodellen: „Bei Geld hört die Freundschaft auf“ oder „Bei Geld fängt die Freundschaft an“. Bruno meint: „Wenn es (Freundschaft) mit jedem ist, ist es mit niemandem“ oder bei Freundschaft „gibt es keine Hintergedanken“. Damit trifft er natürlich den wunden Punkt von Francois, der die Freundschaft plant, wie einen Kunstdeal. Immerhin lässt der am Ende  mit einem Zitat aus „Der kleine Prinz“ Lernbereitschaft erkennen: „Wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen.“ 

Schwächen

Die Pretitle-Sequenz mit einem statischen Mosaik als Hintergrundbild hätte etwas einfallsreicher gestaltet werden können. Warum nicht ein kleines Kunstwerk zu Beginn – es geht doch hier um Kunst -, wie Ridley Scott es zum Beispiel in „Man on Fire“ demonstriert hat? Das Lampenfieber, das Bruno stets im Scheinwerferlicht befällt, wirkt ein bisschen übertrieben. Catherines Anschaffung einer Kopie der Vase wirkt reichlich unglaubwürdig. Wozu überhaupt? Wäre doch viel dramatischer gewesen, wenn Bruno in seinem Zorn eine 200.000 Euro teure Vase zerstört hätte. Das hätte die Fallhöhe erhöht und am Schluss unsere Ahnung bestätigt, dass bei Geld die Freundschaft anfängt und nicht aufhört. 

Fazit

„Mein bester Freund“ ist ein ebenso schwarzhumoriger wie charmanter Film mit einem philosophischen Hintergrund, der beseelt und zum Nachdenken anregt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für Mein bester Freund.

Die Kinder des Monsieur Mathieu (Christophe Barratier) F 2004

„Die Kinder des Monsieur Mathieu“ ist ein wundervoller Film mit einem klassischen Erzählmotiv: Gestrandet („Robinson Crusoe“, Castaway“ usw.) Der arbeitslose Musiklehrer Clément Mathieu strandet kurz nach dem 2. Weltkrieg als Aufseher in einem Heim für schwer erziehbare Jungen. Der Film ist eine Hommage an die Rebellion gegen rigide Erziehungsmethoden, an die Kindheit und die Kraft der Musik, die verlorenen Seelen Mut und Selbstvertrauen einflößen kann. Der Film stellt auch einen Haufen benachteiligter Kinder auf ein Podest, macht sie zu Helden und erinnert damit an Truffauts Meisterwerk „Taschengeld“.

Prolog

Auf der DVD gibt es eine sehr schöne Einführung des Schweizer Produzenten Arthur Cohn, der seine Beweggründe darlegt, „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ gegen alle Widrigkeiten zu realisieren. Damit macht Cohn auch auf ein zentrales Motiv des Protagonisten aufmerksam, der immer seine Schlupflöcher gesucht hat, um seine Ziele zu erreichen. Mathieu ist der Anwalt der Aussortierten, die nichts haben, „nur hoffen und träumen können.“ Und mit Mathieu können sie das.

Die Geschichte

Es beginnt damit, dass der erfolgreiche Dirigent Pierre Morhange die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhält. Nach der Beerdigung in Frankreich überreicht ihm sein alter Schulfreund Pépinot das Tagebuch ihres ehemaligen Aufsehers Clément Mathieu. Rückblende. Mathieu tritt eine Stelle als Aufseher in einem Internat für schwer erziehbare Jungen an. Dort führt Direktor Rachin ein rigides Regiment, das bedingungslosen Gehorsam einfordert. Erpressung, Denunziation und Bestrafung sind sein Instrumentarium. 

Der Rebell

Schnell widersetzt Mathieu sich diesen Regeln, indem er den Urheber eines üblen Streiches deckt und ihm eine Chance auf Wiedergutmachung gibt. Im Unterricht nimmt Mathieu die Jungen ernst und fordert sie. Er lässt sie ihre Träume auf einem Zettel aufschreiben. Trotzdem wird er zur Zielscheibe ihres Spotts und ihrer Streiche. Nach dem Diebstahl seiner Aktentasche, die lauter Notenblätter enthält, findet er die Übeltäter in der Toilette. Anstatt sie zu bestrafen, lässt er die Jungen Lieder vorsingen.

Das Talent

Der junge Pierre Morhange muss, nachdem er sich über den Direktor lustig gemacht hat, in den Karzer. Als seine schöne Mutter zu Besuch kommt, verliebt Mathieu sich auf der Stelle in sie. Die Abwesenheit ihres Jungen entschuldigt er mit einer Notlüge, um sie zu schützen. Im Unterricht lässt Mathieu die Jungen einzeln vorsingen und übt mit ihnen. Rachin ist zwar wenig begeistert, lässt den Chor jedoch vorerst gewähren. Mathieu beobachtet, wie Pierre heimlich Passagen einstudierter Lieder nachsingt und ist von seiner Stimme überwältigt. Er fördert den hochtalentierten Jungen und baut ihn als Solosänger in den Chor ein. 

Der Katalysator

Neu im Internat ist der etwas ältere und aggressive Mondain, der Mitschüler und Lehrer drangsaliert. Als Mondain plötzlich verschwindet und mit ihm 2.000 Franc ist Rachin außer sich vor Wut. Er verordnet harte Sparmaßnahmen und verbietet weitere Chorproben. Mathieu geht mit seinen Schülern in den Untergrund. Die Übungen finden nun im Schlafsaal vor dem Zubettgehen statt. Außerdem macht er Pierres Mutter auf die besondere Begabung ihres Sohnes aufmerksam und schlägt den Besuch eines Konservatoriums vor. 

Eifersucht

Pierre reagiert eifersüchtig auf Mathieus Schwärmereien und überschüttet ihn mit dem Inhalt eines Tintenfasses. Der versteht zwar die Gefühle seines Schülers, verbannt ihn aber zur Strafe aus dem Chor. Aber auch Mathieus Gefühle erhalten einen Dämpfer. Die Mutter hat jetzt einen jüngeren Freund und geht auf seine Avancen nicht ein. Als die Mäzenin des Internats zu Besuch kommt, ist die Darbietung des Chors ein voller Erfolg. Dazu trägt vor allem Pierres Soloeinlage bei, dem Mathieu verziehen hat.

Showdown

Die gestohlenen 2.000 Franc werden bei einem anderen Schüler entdeckt. Die Unschuld Mondains interessiert Rachin allerdings nicht. Er ist mehr an einer Auszeichnung interessiert, die ihm in Lyon überreicht werden soll. In seiner Abwesenheit wird das Internat von Mondain in Brand gesetzt. Rachin wirft Mathieu Verletzung seiner Aufsichtspflicht vor und entlässt ihn. Er darf sich noch nicht einmal von seinen Schülern verabschieden. Als Mathieu vor den Mauern des Internats zum Bus geht, begleitet ihn der Gesang seiner Schüler und Papierflugzeuge mit Grußbotschaften, die aus den Fenstern auf ihn herabschweben. Das Ende wirkt eher wie ein Traum: Mathieu nimmt Vollwaise Pépinot mit auf seine Reise.

Stärken

Clément Mathieu liebt seine Schüler und seinen Beruf. Er nimmt die  Kinder ernst und fordert sie. Das ist genau das, was sie brauchen und sie wollen ihn unter keinen Umständen enttäuschen. Wie seine Chorknaben voller Inbrunst singen, das ist einfach schön. Ein Lehrstück für Pädagogik. Der Film ist auch brillant fotografiert und bis in die kleinsten Nebenrollen herausragend besetzt. Im Gesicht des aggressiven Mondains spiegelt sich die ganze Hoffnungslosigkeit verkorkster Jugendfürsorge. Der Film beschönigt nichts. Er zeigt die Kinder wie sie sind, in ihrer Verspieltheit, Direktheit und auch in ihrer Brutalität. Gut auch, dass Themen wie Missbrauch und Suizid nicht verschwiegen, aber nur angerissen werden. Sie hätten die eigentliche Geschichte und ihren positiven Grundtenor zerstört (s.a. Hitchcocks Anmerkungen zum Verrat am Kino).

Antagonist

Von diesem Antagonisten hätte sich „Thelma – Rache war nie süßer“ nur eine kleine Scheibe abschneiden müssen. Rachin begrüßt Mathieu im Internat mit der zynischen Bemerkung, dass er seine Ideale hier schnell verlieren werde. „Aktion – Reaktion“ ist sein Diktum. Was er darunter versteht, erfährt man sofort: Gnadenlose Bestrafung für die (vermeintlichen) Querulanten. Mit Sarkasmus geizt er nicht: „Nie werden Sie einen anständigen Ton aus denen rauskriegen.“ Rachin schämt sich auch nicht, den Erfolg des Chores als den eigenen auszugeben. Er ist einfach ein wundervoller Bösewicht.

Schwächen

Einziger Schwachpunkt: Mathieu macht eigentlich alles richtig. Nur ein einziges Mal, als er Opfer seiner Gefühle wird und Pierre bestraft, fällt ein Schatten auf sein Handeln. Die Vergebung lässt nicht lange auf sich warten.

Fazit

„Die Kinder des Monsieur Mathieu“ von Christophe Barratier ist ein bewegender Film, der unsere Seele berührt und Hoffnung schenkt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "Die Kinder des Monsieur Mathieu".

Triangle of Sadness (Ruben Östlund) S, GB, USA 2022

Der 2. Teil dieser Tragikomödie spielt auf einer Luxusyacht und ist der beste des Dreiakters. Richtig Freude bereitet „Triangle of Sadness“, wenn er ganz ruhig die Marotten der betuchten Gästen und der Crew beobachtet. Die Schauspieler sind auch hervorragend besetzt. In seinen schönsten Momenten erinnert der Film dann an „Die Ferien des Monsieur Hulot“ von Jacques Tati. Aber dann gerät die Sache sprichwörtlich aus dem Ruder. Ein Sturm sorgt für Schieflage. Exzessives Saufen, Gekotze, Überflutung durch Exkremente und eine Explosion führen zum Untergang der Yacht und der „Geschichte“. 

Dramaturgie

„Triangle of Sadness“ hat, genauso wie „Spotlight“, keine Geschichte, kein klassisches Erzählmotiv, keine Hauptperson, keine Spannung, keinen Suspense. Es fehlen also die elementarsten Zutaten für die Herstellung eines unterhaltsamen Spielfilms. Im 3. Akt „Die Insel“ verkommt der Film dann zur verquasten Kapitalismuskritik. Künstlichkeit und erzählerische Konstruktionen haben das Kommando übernommen. Die bemühte Umkehrung der Machtverhältnisse – Putzfrau Abigail hat jetzt das Sagen – ist eigentlich ein Plädoyer für den Kapitalismus. Unter ihrem Regime herrschen Neid, Missgunst, Diebstahl, Korruption, Prostitution und Mordgedanken. Wer will damit zu tun haben? Da verweilt man doch lieber auf einer Luxusyacht mit Champagner schlürfenden Geldsäcken. 

Die Figuren

Anfangs konzentriert sich der Film auf das Modelpaar Yaya und Carl. Die sind zwar nicht interessant, aber hübsch und präsent. Auf der Yacht bietet „Triangle of Sadness“ dann ein ganzes Bataillon an Personen auf: Den versoffenen Kapitän, den stinkreichen Russen Dimitry, die nicht minder betuchte Therese, den IT-Experten Jarmo usw. Eine Hauptperson ist nicht mehr auszumachen. Konflikte reduzieren sich auf folgendes Niveau: Carl beschwert sich bei der Crew, weil einer ihrer Mitglieder sich halbnackt an Bord gezeigt hat. Der alkoholisierte Kapitän kommt nicht aus seiner Kajüte. Die Gattin eines Düngemittelproduzenten nötigt die gesamte Besatzung, im Meer zu baden. Tja, das ist allenfalls amüsant, aber doch nicht spannend oder ergreifend. Mit wem sollen wir mitfiebern, wenn es keine(n) interessanten Helden gibt (s. „Spotlight“)?

Stilmittel

Unappetitliche Zutaten wie Erbrochenes, Fäkalien usw. ins Spiel zu bringen oder wenig subtile wie Explosionen, Tötung von Tieren ist legitim, wenn sie denn einen erzählerischen Mehrwert darstellen. Allerdings sollten sie uns dann nicht wie „Kai aus der Kiste“ nach der Hälfte des Films überraschen, sondern sofort als durchgängiges Gestaltungsmittel etabliert werden. Nicht nur „Parasite“ von Bong Joon-ho, der nach der Hälfte von einer schwarzhumorigen Satire zum Schlitzerfilm mutiert, sollte ein warnendes Beispiel sein. 

Ungereimtheiten

Die Crew spricht griechisch. Die Vegetation der Insel im 3. Akt deutet auf die Ägäis hin. Aber seit wann gibt es dort Piraten? Wieso werfen die überhaupt eine Handgranate an Bord? Üblicherweise rauben sie doch Passagiere und Besatzung aus oder erpressen Lösegelder, aber versenken doch nicht ihre Beute. Wieso erforschen die Gestrandeten die Insel erst gegen Ende des Films? Was macht ein fliegender Händler an einem völlig vereinsamten Strand?

Fazit

Wie Gesellschaftskritik in einen witzigen, bösen Film transformiert werden kann, hätte der Regisseur zum Beispiel an Hand von Lubitschs „Ninotschka“ studieren können. Aber der hat auch eine Geschichte, ein Erzählmotiv, taugliche Hauptfiguren, innere Konflikte, existenzielle Gefahren, bissige Dialoge usw. Wie kommt man überhaupt darauf, dass die Verbreitung von politischen Haltungen Auswirkung auf die Qualität einer Geschichte haben könnte? So mutet das Ganze eher wie ein „Bermuda Triangle“ an.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 2 blaue Smileys und 5 schwarze traurige Gesichter für "Triangle of Sadness".

Back in the Game (Robert Lorenz) USA 2012

„Back in the Game“ ist eine leidlich spannende Tragikomödie im Baseballmilieu mit Clint Eastwood in der Hauptrolle. Wie in den Meisterwerken „Gran Torino“ oder „The Mule“ werden auch hier seine eigenen defizitären Vaterpflichten thematisiert. Den erzählerischen Hintergrund bilden berufliche Intrigen einer Scoutingfirma sowie einer Anwaltskanzlei. Spannungstechnisch kann diese Folie aber nicht mit den Thrillerebenen der beiden oben genannten Meisterwerke mithalten.

Die Geschichte

Der alternde, griesgrämige Baseball-Talentsucher Gus Lobel (Clint Eastwood) leidet unter einer Augenmakulatur, die er seinem Boss lieber verheimlicht. Damit wird es für ihn natürlich schwierig, junge Talente zu sichten. Tochter Mickey (Amy Adams), erfolgreiche Anwältin in einer Kanzlei, nimmt sich Urlaub, um dem Rauhbein unter die Arme zu greifen. Klar, dass der sture Bock („ungenießbar wie immer“) ihre Hilfe ablehnt. Immerhin lernt sie bei ihren Bemühungen den jungen Scout Johnny Flanagan (Justin Timberlake) kennen, der einst von Gus als Spieler entdeckt wurde. Beide Talentsucher sind sich in ihrer ablehnenden Bewertung des arroganten Shootingstars Bo Gentry einig. Nachdem dieser doch von Gus’ Firma verpflichtet wird, fühlt Johnny sich verraten, bis sich das Missverständnis klärt.

Die Vorgeschichte

Gus’ Ehefrau verstarb, als Mickey gerade mal sechs Jahre alt war. Der alleinerziehende, überforderte Vater schickte sie zunächst in die Obhut seines Bruder, später aufs Internat. Deshalb fühlt Mickey sich Zeit ihres Lebens vom Vater abgelehnt und verstoßen. In einer Schlüsselszene werden ihre Vorwürfe und Schmerzen transparent: „Nur ein Feigling lässt sein Kind allein“. Gus erklärt sein scheinbar abweisendes Verhalten mit einem sexuellen Übergriff, den Mickey als kleines Mädchen erleiden musste. Den Straftäter hat Gus zwar krankenhausreif geschlagen, aber das hat ihn nicht von seinen Schuldgefühlen befreit. Ihre Abschiebung war nichts weiter als ein Eingeständnis seiner Hilflosigkeit, die eigene kleine Tochter nicht beschützen zu können. Die Aufdeckung der dramatischen Backstory bietet beiden die die Chance für einen Neuanfang.

Dramaturgie

Wenn Verlauf und Ende einer Geschichte vorhersehbar sind, dann ist das natürlich dramaturgisch nicht so toll. Als geübter Zuschauer weiß man viel zu früh, dass Mickey nicht bei ihrem schnöseligen Freund bleiben und auch keine Karriere in dieser smarten Anwaltskanzlei machen wird. Man weiß, dass Vater und Tochter sich – trotz verbaler Streitigkeiten – im Grunde lieben. Man ahnt, dass Mickey und Johnny am Ende zusammenkommen. Wenn all diese Erwartungen dann auch noch eintreten, steigert das nicht gerade die Spannungskurve. Desgleichen sind einige Figuren nicht gerade subtil skizziert: die arroganten Rivalen von Gus und Mickey, der übergriffige Partner beim Billardspielen, der großkotzige Shootingstar beim Baseball. Man weiß einfach, dass diese Typen am Ende nicht als Sieger vom Platz gehen werden. 

Ungereimtheiten

Schwer zu glauben, dass ein 6-jähriges Mädchen sich nicht mehr an einen sexuellen Übergriff erinnern kann. Besser wäre es gewesen, diese Erinnerungslücke mit einer Verdrängung zu erklären, also mit einer seelischen Schutzmaßnahme. Ein Zufall ist immer ein erzählerisches Manko. Schon kurios wie Mickey gegen Ende des Films förmlich über den talentierten Pitcher „Erdnussboy“ vor ihrem Hotel stolpert. Da hätten die Macher sich etwas mehr Mühe geben können. Auch ihr abrupter Berufswechsel in die Welt des Baseballs wirkt ein bisschen konstruiert.

Fazit

Insgesamt überwiegt das Positive. Die Dialoge sind manchmal hart, manchmal witzig, aber meistens pointiert. Mit Mickey Lobel gibt es eine starke Frauenfigur, die schlagkräftig und frech die Männer in ihre Schranken weist. Es ist kein großer Wurf, aber mit seiner tollen Filmmusik und seinem Happy End verbreitet „Back in the Game“ einfach gute Stimmung. Null Punkte auf der Defätismusskala.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 4 blaue Smileys und 3 schwarze traurige Gesichter für "Back in the Game".

Liebe und andere Grausamkeiten (Denys Arcand) CND 1993

„Liebe und andere Grausamkeiten“ von Denys Arcand ist eine Tragikomödie über eine Gruppe von Mittzwanzigern auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit. Es ist eine Art Reigen über die Flüchtigkeit von Begegnungen im großstädtischen Montreal. In seiner Anlage erinnert der Film an „Der Eissturm“ von Ang Lee, der den Fokus allerdings auf pubertierende Jugendliche in gutbürgerlichem Milieu legt und im ländlichen Neuengland spielt.

Figuren

Alle Figuren, auch wenn sie es teilweise negieren, sind auf der Suche nach Liebe und ihrem Platz im Leben. Dabei agieren sie weitgehend orientierungslos und stehen sich selbst im Wege. Der schwule David (Thomas Gibson) ist ein ehemaliger Schauspieler, verdient seine Brötchen als Kellner und lebt mit der Literaturkritikerin Candy (Ruth Marshall) in einer Zweck-WG. Beide hatten mal etwas miteinander, aber David ist eigentlich vom anderen Ufer und Candy weiß nicht so genau, was sie will. Gefühlschaos pflastert ihren Weg – so könnte man ihre Befindlichkeiten und Anstrengungen definieren.

Stärken

Ab und zu schimmern Denys Arcands Fähigkeiten durch. Es gibt ein paar skurrile, überraschende Situationen und Dialoge, zum Beispiel wenn David seiner Freundin Benita bei Sadomaso-Spielchen mit einem Kunden als weiß gekleideter Sheriff unter die Arme greift. Zumindest der Schluss des Films vermittelt ein wenig Hoffnung: Candy und der Hilfskellner Kane begleiten David zu einem Castingtermin. In diesem Moment stehen sie einander bei.

Schwächen

„Liebe und andere Grausamkeiten“ hat keine Geschichte. Er beleuchtet eine Phase im Leben der Protagonisten. Es hätte aber auch ein anderes Zeitfenster sein können. Der Film konzentriert sich nicht, weder auf dass, was er vielleicht erzählen will, noch auf seine Figuren. Davon laufen auch viel zu viele herum, dazu noch in wechselnden Outfits, so dass man irgendwann den Überblick verliert: Wer war das denn jetzt? Das Chaos überträgt sich. Mit wem oder was soll der Zuschauer denn hier mitzittern?

Wirrwarr

Völlig wirr wird das Geschehen mit dem etablierten Serienkiller. Der hat eigentlich keine erzählerische Funktion. Man fragt sich nur, warum junge Frauen wiederholt allein völlig einsame Straßen entlang gehen? Am Ende entpuppt sind der eher biedere Beamte Bernie als Täter, der aus unerfüllter Liebe zu David gemordet hat und sich nach seinem Geständnis von einem Hochhaus in die Tiefe stürzt. Völlig hanebüchen.

Lösungen

Die Orientierung an einem klassischen Erzählmotiv hätte dem Film Struktur verliehen. Mal angenommen, David und Candy hätten anfangs eine Wette abgeschlossen, ähnlich wie in „Gefährliche Liebschaften“? Gegenstand ihrer Wette hätte zum Beispiel die Suche nach der „wirklichen Liebe“ sein können. Denn nach Davids Überzeugung gibt es so etwas nicht. Jedenfalls hätte es dann immer Suspense gegeben, heißt: Der Zuschauer hätte immer mehr Informationen gehabt, als Teile der handelnden Personen. Das wäre dramaturgisch richtig gewesen. Am Ende wären David und Candy dann ein Paar geworden, womit beide die Wette verloren, aber aneinander gewonnen hätten. Im Grunde ist diese Wendung in den Figuren auch angelegt, denn sie vertrauen sich, haben Respekt und Verständnis füreinander. Dabei spielt die Zuneigung oder die Neugier am gleichen Geschlecht eine untergeordnete Rolle. Des weiteren müsste man den Serienkiller entfernen. Er hat in dieser Tragikomödie überhaupt nichts verloren.

Fazit

Denys Arcand hat diesen wunderbaren Film „Der unverhoffte Charme des Geldes“ gedreht. Da denkt man denn, dass andere Werke des Regisseurs von ähnlicher Qualität sein müssten. Sind sie leider nicht. In „Liebe und andere Grausamkeiten“ dominiert die Verwirrung. 

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 2 blaue Smileys und 5 schwarze traurige Gesichter für "Liebe und andere Grausamkeiten".

Die andere Seite der Hoffnung (Aki Kaurismäki) FIN 2017

„Die andere Seite der Hoffnung“ ist zu einem Teil ein in Helsinki angesiedeltes Flüchtlingsdrama, zum anderen eine melancholische Tragikomödie. Seine Qualitäten bezieht der Film aus seinen originellen Figuren und vor allem aus ihren Entwicklungen. Das sind seine stärksten Momente. Leider schafft Aki Kaurismäki es nicht, die Spannung zu eskalieren. Das verhindert die mangelnde Konzentration auf den Helden, das eher gemächliche Erzähltempo, die tableauhaften Inszenierungen und die Stilisierungen. Alles ziemlich künstlich hier.

Die Geschichte

Khaled Ali landet als blinder Passagier in Helsinki, wo er Asyl beantragt. Leider wird seine Heimatstadt Aleppo von der Ausländerbehörde nicht als Krisengebiet eingestuft. Khaled flüchtet, um seiner Abschiebung zu entgehen, und nächtigt hinter Müllcontainern von Waldemar Wikströms neuem Restaurant. Der hilft ihm mit einem Job und gefälschtem Ausweis. Auch zu den übrigen Angestellten des Lokals entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis.  Gemeinsam helfen sie Khaled, seine geliebte Schwester in einem Flüchtlingslager ausfindig zu machen und illegal ins Land zu schmuggeln. Am Ende wird Khaled vor seinem Versteck von einem Rechtsradikalen niedergestochen. 

Visualität

Wie in allen Filmen von Aki Kaurismäki wird auch in „Die andere Seite der Hoffnung“ nicht viel gesprochen. Die Handlungsabläufe sind visuell. Das ist ein großer Vorzug. Wenn Waldemar sich anfangs von seiner alkoholkranken Frau trennt, dann geschieht das wortlos. Man hat sich eben nichts mehr zu sagen. Das verleiht dieser Szene, wie auch einigen anderen, eine noch eine größere Intensität. Wenn mal gesprochen wird, dann häufig auf lakonische Weise.

Die Figuren

Das ist eine der großen Stärken von Aki Kaurismäki: Die Etablierung origineller, prägnanter Figuren. Da spürt man die Schicksale, die sich in den Furchen ihrer Gesichter eingegraben haben. Man schaut ihnen gerne zu. Die schönsten Momente hat der Film, wenn er seinen Figuren eine Entwicklung gönnt. Anfangs behauptet Waldemar, keine Freunde zu haben. Gegen Ende greift er Khaled und seinen Angestellten immer wieder unter die Arme. Auch der Hund soll aus dem Restaurant verschwinden. Am Ende ist er immer noch da und niemand stört sich daran. Eine skurrile Solidargemeinschaft hat sich hier entwickelt. Das ist schön!

Schwächen

Es gibt keinen eindeutigen Helden. Das ist auch in dieser Geschichte ein Nachteil. Das Changieren zwischen Khaled und Waldemar führt zu einer Reduktion der Emotionen. Mit wem sollen wir hier mitzittern? Die alternierende Erzählweise führt auch dazu, dass wir nicht allzu viel über die Protagonisten erfahren: Der Preis der Mehrfachperspektive. Es gibt eine sehr schöne Szene in der Ausländerbehörde, als die Beamtin Khaled nach seiner Vergangenheit befragt. Die traumatischen Erlebnisse mit dem Verlust fast aller seiner Familienangehörigen spiegelt sich in seinem Gesicht wider. Von derart berührenden Szenen hätte man gern mehr gesehen.

Stilisierung

Das ganze Ambiente von „Die andere Seite der Hoffnung“ wirkt sehr künstlich, was manchmal durchaus witzig ist. Wenn Waldemar sich von seiner Frau trennt, steht ein voluminöser Kaktus auf dem Tisch. Das Symbolhafte ist Kaurismäki wichtiger als die Authentizität. Man ahnt – eigentlich weiß man es, dass es so nicht einem Flüchtlingsheim zugeht, dass auch finnische Restaurants anders aussehen. Diese Stilisierung hat etwas Märchenhaftes und hat Anteil an der Distanzierung zum Geschehen, am durchschnittlichen Emotionslevel. Man fragt sich auch, was das soll? Welchen Vorteil hat diese Künstlichkeit? Warum kein authentisches Ambiente, was eigentlich viel besser zum realistischen Grundtenor der Geschichte gepasst hätte?

Finale

Das Ende ist ganz schwach. Es ist ein „Deus ex machina“, eine künstliche Dramatisierung. Die rechtsradikalen Dumpfbacken, die Khaled abstechen, haben eigentlich nichts mit der Geschichte zu tun. Viel besser wäre es gewesen, eine Eskalation der Ereignisse aus den beigefügten Zutaten zu erzielen. Fragwürdig ist auch Khaleds letzte Hilfestellung für seine Schwester, der er schwerverletzt den Weg zum Polizeirevier zeigt. Als ob sie den nicht selber finden könnte? Wohin dieser Weg führt, nämlich zur Abschiebung, hat er doch am eigenen Leib erfahren. So wird die „Hoffnung“ am Ende beseitigt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 4 blaue Smileys und 3 schwarze traurige Gesichter für "Die andere Seite der Hoffnung.

The Holdovers (Alexander Payne) USA 2023

„The Holdovers“ ist eine hervorragende Tragikomödie, in der die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft erzählt wird. Wieder einmal stellt Alexander Payne („About Schmidt“) seine Qualitäten in der Beobachtung menschlicher Schicksale, der Entwicklung von originellen Figuren und Dialogen sowie der Etablierung glaubhafter erzählerischer Wendungen unter Beweis. Hier stimmt einfach alles, angefangen von der gediegenen Atmosphäre der elitären Barton-High-School im winterlichen Neuengland der 70er Jahre bis hin zur Ausstattung, der Kameraarbeit und der Filmmusik.

Die Figuren

Das ist schon genial, wie Paul Giamatti die Rolle des griesgrämigen Geschichtslehrers Paul Dunham, Fachgebiet: Antike Zivilisationen, mit Leben füllt. „Glubschauge“, so sein Spitzname, ist bei Schülern und Kollegen gleichermaßen unbeliebt. Paul ist ein Einzelgänger und Zyniker. Integrität ist nach seinen Beobachtungen „eine Posse“ und Werte existieren nur noch „auf Bankkonten“. Anfangs verteilt er genüsslich schlecht benotete Klassenarbeiten an seine Schüler, nicht ohne zusätzliche Hausaufgaben einzufordern, um bei nächsten Prüfungen besser abzuschneiden. 

Der Unbestechliche

Das steigert natürlich nicht seine Beliebtheit, was Paul aber eher Freude zu bereiten scheint. Er hat also eine kleine sadistische Ader. Zum Glück beschränkt sich Pauls Widerborstigkeit nicht nur auf seine Schülerschaft. Auch mit der Schulleitung hat er Ärger, da er den Sohn eines wohlhabenden Spenders der High School durch eine Prüfung hat fallen lassen. Paul ist nicht korrumpierbar. Zur Strafe muss er nun über die Weihnachtsferien eine Handvoll Schüler beaufsichtigen. Das sind die „Holdovers“ (zu deutsch: Überbleibsel), die Aussortierten, die aus unterschiedlichen Gründen nicht nach Hause können.

Odd Couple

„The Odd Couple“ ist ein Theaterstück von Neil Simon und Bezeichnung einer Charakter-Konfiguration, in der äußere Umstände völlig unterschiedliche Figuren eine Zeit lang aneinander kettet. Das impliziert natürlich dramatisches Potenzial. Nachdem vier der fünf Aussortierten doch noch unterkommen, verbleibt nur noch der ebenso aufgeweckte wie renitente 17-jährige Schüler Angus Tully (Dominic Sessa). Und der findet seinen Lehrer schlicht widerlich: „Ich dachte, die Nazis verstecken sich alle in Argentinien.“ Die Konflikte sind also vorprogrammiert und werden fachgerecht erst am Ende beigelegt.

Der Katalysator

Die dritte im Bunde ist die korpulente schwarzafrikanische Köchin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph). Ihr Sohn Curtis, ehemaliger Schüler der Barton-High-School, der aber kein Geld fürs College hatte, ist gerade in Vietnam gefallen. Auch ihr enormer Whiskykonsum kann ihr nicht über den Verlust hinweghelfen. Trotz ihrer seelischen Notlage ist Mary ein wichtiger Katalysator. Sie ist es, die den scheinbar verbitterten Paul zum Nachdenken bringt: „Was stimmt nicht mit Ihnen?“ Und Paul ist klug genug, diese Anregung genauso anzunehmen wie ihren dargebotenen Whisky.

Die Geschichte

Im Grunde ist es ein Haufen verletzter Seelen, der hier im altehrwürdigen Gemäuer der High School eingepfercht ist. Es dauert ein bisschen, bis sich die Freundschaft zwischen Paul und Angus entwickeln kann. Eigentlich fängt es mit einer ausgekugelten Schulter an, die Angus sich trotz Verbots in der Turnhalle zugezogen hat. Im Krankenhaus schützt er Paul mit einer Notlüge, der ansonsten Ärger wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht bekommen hätte.

Nachdem Paul sein Verhalten überdenkt, lässt er sich sogar zu einer Spritztour nach Boston überreden. Dort besucht Mary ihre schwangere Schwester und Angus seinen Vater, der angeblich verstorben ist, tatsächlich aber in einem Pflegeheim lebt. Wieder eine dieser Wendungen. Dieser Besuch hat allerdings unangenehme Konsequenzen, denn der psychisch kranke Vater reagiert verwirrt und aggressiv, weshalb Angus zur Strafe nun auf eine Militärakademie soll. Das kann Paul verhindern, indem er die Schuld an diesem Ausflug auf seine Kappe nimmt. Denn das hat er inzwischen von Angus gelernt: Manchmal kann eine Notlüge hilfreicher sein als die Wahrheit. 

Dramaturgie

In „The Holdovers“ gibt es zwar keine lebensbedrohlichen Situationen, keine Verfolgungsjagden oder Schießereien. Muss ja auch nicht. Ist ja auch kein Actionfilm oder Thriller. Dafür hat Alexander Payne immer überraschende Wendungen parat, die glaubhaft in der Geschichte und ihren Figuren verankert sind. Er schafft es, ihre Gefühle mit unseren zu synchronisieren. Jedem Hochgefühl folgt eine Enttäuschung, ein Konflikt mit neuen Herausforderungen und Hindernissen. Nach einer Feel-Good-Sequenz folgt das Drama und umgekehrt. So ist das richtig. Wenn Paul sich zum Beispiel für die Weihnachtsfeier der sympathischen Schulsekretärin Lydia Crane zurechtmacht, schwingt da seine Hoffnung auf eine Beziehung mit. Der Zuschauer hofft mit ihm, bis zu später Stunde Lydias Freund erscheint. 

Finale

Am Ende muss Paul die High School verlassen, während Angus verbleiben darf. Das ist das Drama: In dem Moment, wo beide sich angefreundet haben, trennen sich ihre Wege. „Es ist das rechte Auge, in das man gucken muss“, verrät „Glubschauge“ dem Jungen zum Abschied. Das Drama hat aber auch gleich wieder eine Wendung parat. Denn zum einen wird Angus nicht auf die Militärakademie strafversetzt, was 1971 in den USA tödlich enden kann (s. Marys Sohn), zum anderen ist es für Paul vielleicht auch mal an der Zeit, etwas Neues in seinem Leben zu beginnen. Es gibt also Hoffnungen und das ist schön. „The Holdovers“ ist eine kleine Filmperle.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "The Holdovers".

Ein leichtes Mädchen (Rebecca Zlotowski) F 2019

Was für eine wundervolle kleine Coming-of-Age-Geschichte! Bei deren Entwicklung hat die französische Regisseurin Rebecca Zlotowski sich von einem Zeitungsartikel inspirieren lassen. Heldin ist die 16-jährige Naïma (Mina Farid), die im südfranzösischen Cannes lebt. Im Voiceover bekommen wir Einblicke in ihr Leben. Zusammen mit Freund Dodo interessiert sie sich für Schauspielerei, aber eigentlich auch nicht so richtig. Es sind Sommerferien und sie lässt sich erstmal treiben, bis ihre sechs Jahre ältere Cousine Sofia aus Paris zu Besuch kommt. Die ist „Ein leichtes Mädchen“, verdient ihr Geld wahrscheinlich als Edelprostituierte und ist so ungefähr das Gegenteil von der eher braven und schüchternen Naïma. Das ist sehr schön kontrastiert und deshalb erzählerisch ertragreich.

Die Geschichte

Jedenfalls ist Naïma fasziniert von der erfahrenen, freizügigen Cousine und begibt sich gern in deren Kielwasser. Sofia glaubt nicht an die Liebe, sondern an den nächsten Kick: „Du musst die Dinge immer selbst bestimmen.“ Ein Resultat ist die Einladung auf die Motoryacht von Eigner Andres und seinem Adlatus Philippe. Sofia hat keine Probleme, sich in der Welt der Reichen zu bewegen. Für teure Geschenke nächtigt sie auf der Yacht, während Naïma sich hin- und hergerissen fühlt. Bei einem Bootsausflug flirtet sie mit Philippe. Doch der hält sie auf Distanz. Als Andres der beiden Mädchen überdrüssig wird, lässt er einen kostbaren Sextanten verschwinden und beschuldigt Sofia und Naïma des Diebstahls. Beide müssen die Yacht verlassen.

Die Figuren

Mit den unterschiedlichen Reaktionen der beiden Mädchen auf diesen Rauswurf stellt der Film auch gleichzeitig Sofias Liebes- und Lebensmodell in Frage: Während Naïma sich über diese Ungerechtigkeit empört, ist Sofia zutiefst verletzt. Für ihre Hingabe ist sie zwar mit teuren Geschenken belohnt, aber am Ende wie der letzte Dreck behandelt worden. Auch die Brüchigkeit ihres Charakters ist einer der Stärken dieses Films. Wenn die coole, selbstsichere Fassade bröckelt, wird ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit transparent.

Der Schutzengel

Kinder, Jugendliche, auch Heranwachsende brauchen manchmal einen Schutzengel, um unbeschadet durchs Leben zu kommen. Naïma hat das Glück, auf Philippe zu treffen, der als eine Art Manager für Yachtbesitzer Andres fungiert. Der charakterisiert seinen Freund Philippe so: „Er erkennt den Wert der Dinge.“ Nicht nur der Dinge, müsste man ergänzen. Schon beim ersten Besuch auf dem Schiff, als Naïma auf einem Sofa einschläft, deckt er sie mit einer Wolldecke zu. Später schützt er Naïma, indem er ihre Avancen zurückweist: „Du bist noch ein Kind.“ Gleichwohl erweist er ihr Respekt und Würde, indem er einen der Bediensteten auffordert, sich für einen Rüffel bei Naïma zu entschuldigen: „Sie ist unser Gast.“

Philippe hat auch den Mut, Andres die Stirn zu bieten, nachdem dieser die beiden Mädchen fälschlicherweise des Diebstahls bezichtigt und entzieht ihm die Freundschaft: „Nenn’ mich nie wieder Sokrates.“ Beim Abschied in der Marina stärkt er Naïmas Selbstvertrauen, indem er ihr „Charakterstärke“ attestiert. Philippe hat Anteil an ihrem Erwachsenwerden. Ihm ist auch der Film gewidmet, wie wir im Nachspann erfahren.

Finale

Am Ende tritt Naïma ihre Ausbildung als Köchin an. Sie entscheidet sich – erstmal – für das Bodenständige. „Bist du bereit, Chefin?“ fragt Ihr Ausbilder sie am ersten Arbeitstag. „Ja, ich bin bereit“, kommt ihre Antwort – ohne Umschweife, klar und deutlich. „Ein leichtes Mädchen“ ist ein filmisches Schwergewicht und demonstriert auch, welche Bedeutung dem 6. Baustein der „7 Säulen der Filmgestaltung“ zukommt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "Ein leichtes Mädchen".

Station Agent (Tom McCarthy) USA 2003

„Station Agent“ ist eine kleine, ungewöhnliche Tragikomödie, mit sehr originellen Protagonisten und ein paar dramaturgischen Defiziten. Dieser Independent-Film zeigt auch, was in der US-amerikanischen Filmindustrie mit all ihren Schattenseiten möglich ist. Produktionskosten von gerade mal einer halben Million Dollar stehen weltweiten Einnahmen von knapp neun Millionen gegenüber. Chapeau!  

Figuren

„Station Agent“ hat sehr interessante, prägnante Protagonisten. Allen voran der kleinwüchsige Held Finbar „Fin“ McBride (Peter Dinklage). Wenn er im Supermarkt von der Kassiererin aufgrund seiner Körpergröße gar nicht wahrgenommen wird, ertappt man sich beim Schmunzeln. Zugleich bekommt man eine Ahnung von erlittenen Demütigungen, wobei „Zwerg“ noch zu den harmloseren Lästereien gehört. Aber es gibt auch originelle Bemerkungen. So fragt ihn das Schulmädchen Cleo ganz unbekümmert, in welche Klasse er denn geht. 

Drei Freunde

Tom McCarthy gönnt dem Helden eine Entwicklung. Anfangs ist es Fin, der allen vermittelt, in erster Linie seine Ruhe zu wollen. Erst als die labile Olivia Harris (Patricia Clarkson) gleiches von ihm einfordert und er sich nicht an diese Vorgabe hält, reißt er die selbst errichteten Schutzmauern ein. Damit rettet er nicht nur ihr Leben. Am Ende hat Fin gelernt, dass Ruhe gar nicht immer so gut ist.

Der Zweite im Bunde ist der Imbissbesitzer Joe Oramas (Bobby Cannavale), der eigentlich nur seinen Vater im mobilen Verkaufswagen vertritt. Er hat im besten Sinne etwas Kindliches, ist neugierig, unternehmungslustig und verspielt. Vor allem äußert er unverblümt seine Meinung. „Oh shit“, ist erst mal alles, was ihm bei seiner ersten Begegnung mit Fin einfällt. Die selbe Einschätzung entfährt ihm angesichts von Olivias Gemälden. Außerdem ergreift er Partei für Fin, als zwei seiner Gäste sich abfällig äußern. Joe ist ein echter Freund, ein Glücksfall für Fin und den Film.

Komplettiert wird das Trio von der verhuschten, ca. 40-jährigen Olivia, die unter dem Verlust ihres Sohnes und der Trennung von ihrem Mann leidet. Sehr schön ist auch die Meeting-Scene, als Olivia in Schlangenlinien mit ihrem Wagen auf der Straße fährt und Fin sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringt. Zwischen den beiden entwickeln sich zarte Bande, die Olivia letztlich helfen, zumindest vorerst wieder in die Spur zu kommen. Diesem Dreigespann schaut man einfach gern zu.

Schwachpunkte

Der Film hat einige Längen. Gelegentlich sieht man Fin herumspazieren, ohne dass ein erzählerischer Mehrwert entsteht. Was sollen uns Zwischenschnitte von Bahngleisen sagen, außer dass es sich hier um Bahngleise handelt? Olivias Freundin Janice, die einmal auftaucht, hat nun wirklich keine Handlungsrelevanz. Joe verhält sich unserem Helden gegenüber von Anfang an neugierig und freundlich. Das ist natürlich dramaturgisch nicht so toll. Insgesamt gibt es zu wenig Gefahrenmomente für Fin. Einmal landet er sturzbetrunken im Gleisbett, aber das war’s dann. Zu Beginn des Films erfahren wir zwar, dass er Modelleisenbahnen repariert, aber nicht wovon er nach seinem Umzug lebt. Auch oder gerade wenn man ein Haus – zumal so eine Bruchbude – erbt, benötigt man Geld. Die Thematisierung seiner Existenzkämpfe bleibt leider ausgespart.

Lösungen

In der Beziehung von Fin und Joe wäre eine Odd-Couple-Konfiguration  dramaturgisch ertragreicher gewesen. Also, Joe der griesgrämige, mit allen erdenklichen Vorurteilen ausgestattete Nachbar. Zudem hätte sein Imbisswagen nicht mobil sein dürfen. In einer Zwangslage hätte die Dramatik bestanden. So kann er sich beim ersten handfesten Konflikt aus dem Staub machen, was er ja dann auch tut. Hier wäre denkbar gewesen, dass ihm der alte abgestellte Eisenbahnwaggon gehört. In dem räumt Fin zwar ab und zu auf, aber ansonsten hat dieser keine Funktion. Mit dem Waggon hätte Joe sich nicht einfach davonmachen können. Am Ende hätte das Trio dort ein kleines Eisenbahn-Restaurant eröffnen können, mit Joe als Koch, mit Fin als Kellner und Olivias Gemälden an den Wänden.

Fazit

Das Ende von „Station Agent“ wirkt etwas überraschend. Andererseits sieht man die drei Freunde – nach Trennung und Selbstmordversuch – vereint. Sie haben einander Halt gegeben. Das gibt Hoffnung. Den Wunsch nach Isolation werden weder Fin noch Olivia so schnell wieder artikulieren. „Station Agent“ ist eine kleine, unprätentiöse Perle.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 4 blaue Smileys und 3 schwarze traurige Gesichter für "Station Agent"

About Schmidt (Alexander Payne) USA 2002

Von der ersten Sekunde an wird in dieser Tragikomödie der amerikanische Traum vom familiären Wohlstand auf eindrucksvolle Weise demontiert. Aber anders als in Ang Lees „Der Eissturm“ ist in „About Schmidt“ der gnadenlose Blick hinter die beruflichen und familiären Fassaden nie distanziert. Er ist stets ebenso böse wie liebevoll. Die Ausstattung, die Requisiten, die Kleidung, die Schauspieler – alles stimmt bis aufs I-Tüpfelchen. Allen voran Jack Nicholson in der Rolle des Versicherungsmathemathikers Schmidt, dessen Hang zu Infantilitäten wie zum Beispiel in „Departed“ (Martin Scorsese) hier keinen Platz hat. Als Durchschnittsbürger kann er zeigen, dass er ein überdurchschnittlicher Schauspieler ist. Dazu trägt auch die unglaubliche Konzentration der Geschichte auf ihren Helden bei. Schmidt ist praktisch in jeder Szene präsent. Es gibt keinen Schnickschnack, keine Ablenkungsmanöver, keine Unausgegorenheiten. Entscheidenden Beitrag dazu leistet die literarische Vorlage von Louis Begley, dessen Biografie sich liest wie ein Abenteuerroman und einen Exkurs wert ist.

Schwachpunkte

Kleines Manko in diesem ansonsten grandiosen Film ist der duchschnittliche Ausschlag der Spannungskurve. Die Bedrohung für den wohlsituierten Rentner Schmidt ist nicht existenziell wie für die Protagonisten in „Fahrraddiebe“. Da hätte man Schmidt das Leben durchaus noch schwerer machen können, auch wenn sein Eintritt ins Rentenalter jede Menge unliebsame Überraschungen in petto hat. Angefangen vom plötzlichen Tod seiner Ehefrau Helen, mit der er 42 Jahre verheiratet war, die – wie sich herausstellt – eine Affäre mit seinem besten Freund hatte, über die distanzierten Begegnungen zur einzigen Tochter Jeannie und deren Verlobten, dem einfach gestrickten Randall. Die bevorstehende Hochzeit der beiden ist Anlass für eine Reise, für ein Roadmovie, um den Mysterien des letzten Lebensabschnitts auf die Spur zu kommen. 33 Jahre nach „Easy Rider“ (Dennis Hopper) endet die Odyssee für Jack Nicholson aber nicht tödlich, sondern nur scheinbar aussichtslos.

Finale

Die Lösung liegt in der Etablierung der Brieffreundschaft zum tansanischen Jungen Ndugo, die Schmidt 22 Dollar im Monat kostet. Während er seine Briefe schreibt, erfahren wir durch seine Stimme im Off ungeschminkte Einblicke in seine Gefühlswelt. Das ist schon ein genialer Schachzug. Im Grunde ist das Briefeschreiben für Schmidt nichts anderes als eine Therapie, eine Möglichkeit des Austausches, was das erstarrte Eheleben offensichtlich schon lange nicht mehr leistet. Die Brieffreundschaft entsteht eigentlich erst am Schluss, als Schmidt selbstkritisch über die eigene Bedeutungslosigkeit räsoniert, den Sinn des Lebens in Frage stellt. In diesem Moment kommt die Rückmeldung von Ndugu, dessen kindliche Zeichnung Schmidt zu Tränen rührt und seinen Defätismus erschüttert: Vielleicht ist doch nicht alles sinn- und bedeutungslos? Vielleicht kann man doch Spuren hinterlassen? Dass dem so sein kann, demonstriert „About Schmidt“ auf kluge und wundervolle Weise.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "About Schmidt"