Die andere Seite der Hoffnung (Aki Kaurismäki) FIN 2017

„Die andere Seite der Hoffnung“ ist zu einem Teil ein in Helsinki angesiedeltes Flüchtlingsdrama, zum anderen eine melancholische Tragikomödie. Seine Qualitäten bezieht der Film aus seinen originellen Figuren und vor allem aus ihren Entwicklungen. Das sind seine stärksten Momente. Leider schafft Aki Kaurismäki es nicht, die Spannung zu eskalieren. Das verhindert die mangelnde Konzentration auf den Helden, das eher gemächliche Erzähltempo, die tableauhaften Inszenierungen und die Stilisierungen. Alles ziemlich künstlich hier.

Die Geschichte

Khaled Ali landet als blinder Passagier in Helsinki, wo er Asyl beantragt. Leider wird seine Heimatstadt Aleppo von der Ausländerbehörde nicht als Krisengebiet eingestuft. Khaled flüchtet, um seiner Abschiebung zu entgehen, und nächtigt hinter Müllcontainern von Waldemar Wikströms neuem Restaurant. Der hilft ihm mit einem Job und gefälschtem Ausweis. Auch zu den übrigen Angestellten des Lokals entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis.  Gemeinsam helfen sie Khaled, seine geliebte Schwester in einem Flüchtlingslager ausfindig zu machen und illegal ins Land zu schmuggeln. Am Ende wird Khaled vor seinem Versteck von einem Rechtsradikalen niedergestochen. 

Visualität

Wie in allen Filmen von Aki Kaurismäki wird auch in „Die andere Seite der Hoffnung“ nicht viel gesprochen. Die Handlungsabläufe sind visuell. Das ist ein großer Vorzug. Wenn Waldemar sich anfangs von seiner alkoholkranken Frau trennt, dann geschieht das wortlos. Man hat sich eben nichts mehr zu sagen. Das verleiht dieser Szene, wie auch einigen anderen, eine noch eine größere Intensität. Wenn mal gesprochen wird, dann häufig auf lakonische Weise.

Die Figuren

Das ist eine der großen Stärken von Aki Kaurismäki: Die Etablierung origineller, prägnanter Figuren. Da spürt man die Schicksale, die sich in den Furchen ihrer Gesichter eingegraben haben. Man schaut ihnen gerne zu. Die schönsten Momente hat der Film, wenn er seinen Figuren eine Entwicklung gönnt. Anfangs behauptet Waldemar, keine Freunde zu haben. Gegen Ende greift er Khaled und seinen Angestellten immer wieder unter die Arme. Auch der Hund soll aus dem Restaurant verschwinden. Am Ende ist er immer noch da und niemand stört sich daran. Eine skurrile Solidargemeinschaft hat sich hier entwickelt. Das ist schön!

Schwächen

Es gibt keinen eindeutigen Helden. Das ist auch in dieser Geschichte ein Nachteil. Das Changieren zwischen Khaled und Waldemar führt zu einer Reduktion der Emotionen. Mit wem sollen wir hier mitzittern? Die alternierende Erzählweise führt auch dazu, dass wir nicht allzu viel über die Protagonisten erfahren: Der Preis der Mehrfachperspektive. Es gibt eine sehr schöne Szene in der Ausländerbehörde, als die Beamtin Khaled nach seiner Vergangenheit befragt. Die traumatischen Erlebnisse mit dem Verlust fast aller seiner Familienangehörigen spiegelt sich in seinem Gesicht wider. Von derart berührenden Szenen hätte man gern mehr gesehen.

Stilisierung

Das ganze Ambiente von „Die andere Seite der Hoffnung“ wirkt sehr künstlich, was manchmal durchaus witzig ist. Wenn Waldemar sich von seiner Frau trennt, steht ein voluminöser Kaktus auf dem Tisch. Das Symbolhafte ist Kaurismäki wichtiger als die Authentizität. Man ahnt – eigentlich weiß man es, dass es so nicht einem Flüchtlingsheim zugeht, dass auch finnische Restaurants anders aussehen. Diese Stilisierung hat etwas Märchenhaftes und hat Anteil an der Distanzierung zum Geschehen, am durchschnittlichen Emotionslevel. Man fragt sich auch, was das soll? Welchen Vorteil hat diese Künstlichkeit? Warum kein authentisches Ambiente, was eigentlich viel besser zum realistischen Grundtenor der Geschichte gepasst hätte?

Finale

Das Ende ist ganz schwach. Es ist ein „Deus ex machina“, eine künstliche Dramatisierung. Die rechtsradikalen Dumpfbacken, die Khaled abstechen, haben eigentlich nichts mit der Geschichte zu tun. Viel besser wäre es gewesen, eine Eskalation der Ereignisse aus den beigefügten Zutaten zu erzielen. Fragwürdig ist auch Khaleds letzte Hilfestellung für seine Schwester, der er schwerverletzt den Weg zum Polizeirevier zeigt. Als ob sie den nicht selber finden könnte? Wohin dieser Weg führt, nämlich zur Abschiebung, hat er doch am eigenen Leib erfahren. So wird die „Hoffnung“ am Ende beseitigt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 4 blaue Smileys und 3 schwarze traurige Gesichter für "Die andere Seite der Hoffnung.

The Holdovers (Alexander Payne) USA 2023

„The Holdovers“ ist eine hervorragende Tragikomödie, in der die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft erzählt wird. Wieder einmal stellt Alexander Payne („About Schmidt“) seine Qualitäten in der Beobachtung menschlicher Schicksale, der Entwicklung von originellen Figuren und Dialogen sowie der Etablierung glaubhafter erzählerischer Wendungen unter Beweis. Hier stimmt einfach alles, angefangen von der gediegenen Atmosphäre der elitären Barton-High-School im winterlichen Neuengland der 70er Jahre bis hin zur Ausstattung, der Kameraarbeit und der Filmmusik.

Die Figuren

Das ist schon genial, wie Paul Giamatti die Rolle des griesgrämigen Geschichtslehrers Paul Dunham, Fachgebiet: Antike Zivilisationen, mit Leben füllt. „Glubschauge“, so sein Spitzname, ist bei Schülern und Kollegen gleichermaßen unbeliebt. Paul ist ein Einzelgänger und Zyniker. Integrität ist nach seinen Beobachtungen „eine Posse“ und Werte existieren nur noch „auf Bankkonten“. Anfangs verteilt er genüsslich schlecht benotete Klassenarbeiten an seine Schüler, nicht ohne zusätzliche Hausaufgaben einzufordern, um bei nächsten Prüfungen besser abzuschneiden. 

Der Unbestechliche

Das steigert natürlich nicht seine Beliebtheit, was Paul aber eher Freude zu bereiten scheint. Er hat also eine kleine sadistische Ader. Zum Glück beschränkt sich Pauls Widerborstigkeit nicht nur auf seine Schülerschaft. Auch mit der Schulleitung hat er Ärger, da er den Sohn eines wohlhabenden Spenders der High School durch eine Prüfung hat fallen lassen. Paul ist nicht korrumpierbar. Zur Strafe muss er nun über die Weihnachtsferien eine Handvoll Schüler beaufsichtigen. Das sind die „Holdovers“ (zu deutsch: Überbleibsel), die Aussortierten, die aus unterschiedlichen Gründen nicht nach Hause können.

Odd Couple

„The Odd Couple“ ist ein Theaterstück von Neil Simon und Bezeichnung einer Charakter-Konfiguration, in der äußere Umstände völlig unterschiedliche Figuren eine Zeit lang aneinander kettet. Das impliziert natürlich dramatisches Potenzial. Nachdem vier der fünf Aussortierten doch noch unterkommen, verbleibt nur noch der ebenso aufgeweckte wie renitente 17-jährige Schüler Angus Tully (Dominic Sessa). Und der findet seinen Lehrer schlicht widerlich: „Ich dachte, die Nazis verstecken sich alle in Argentinien.“ Die Konflikte sind also vorprogrammiert und werden fachgerecht erst am Ende beigelegt.

Der Katalysator

Die dritte im Bunde ist die korpulente schwarzafrikanische Köchin Mary Lamb (Da’Vine Joy Randolph). Ihr Sohn Curtis, ehemaliger Schüler der Barton-High-School, der aber kein Geld fürs College hatte, ist gerade in Vietnam gefallen. Auch ihr enormer Whiskykonsum kann ihr nicht über den Verlust hinweghelfen. Trotz ihrer seelischen Notlage ist Mary ein wichtiger Katalysator. Sie ist es, die den scheinbar verbitterten Paul zum Nachdenken bringt: „Was stimmt nicht mit Ihnen?“ Und Paul ist klug genug, diese Anregung genauso anzunehmen wie ihren dargebotenen Whisky.

Die Geschichte

Im Grunde ist es ein Haufen verletzter Seelen, der hier im altehrwürdigen Gemäuer der High School eingepfercht ist. Es dauert ein bisschen, bis sich die Freundschaft zwischen Paul und Angus entwickeln kann. Eigentlich fängt es mit einer ausgekugelten Schulter an, die Angus sich trotz Verbots in der Turnhalle zugezogen hat. Im Krankenhaus schützt er Paul mit einer Notlüge, der ansonsten Ärger wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht bekommen hätte.

Nachdem Paul sein Verhalten überdenkt, lässt er sich sogar zu einer Spritztour nach Boston überreden. Dort besucht Mary ihre schwangere Schwester und Angus seinen Vater, der angeblich verstorben ist, tatsächlich aber in einem Pflegeheim lebt. Wieder eine dieser Wendungen. Dieser Besuch hat allerdings unangenehme Konsequenzen, denn der psychisch kranke Vater reagiert verwirrt und aggressiv, weshalb Angus zur Strafe nun auf eine Militärakademie soll. Das kann Paul verhindern, indem er die Schuld an diesem Ausflug auf seine Kappe nimmt. Denn das hat er inzwischen von Angus gelernt: Manchmal kann eine Notlüge hilfreicher sein als die Wahrheit. 

Dramaturgie

In „The Holdovers“ gibt es zwar keine lebensbedrohlichen Situationen, keine Verfolgungsjagden oder Schießereien. Muss ja auch nicht. Ist ja auch kein Actionfilm oder Thriller. Dafür hat Alexander Payne immer überraschende Wendungen parat, die glaubhaft in der Geschichte und ihren Figuren verankert sind. Er schafft es, ihre Gefühle mit unseren zu synchronisieren. Jedem Hochgefühl folgt eine Enttäuschung, ein Konflikt mit neuen Herausforderungen und Hindernissen. Nach einer Feel-Good-Sequenz folgt das Drama und umgekehrt. So ist das richtig. Wenn Paul sich zum Beispiel für die Weihnachtsfeier der sympathischen Schulsekretärin Lydia Crane zurechtmacht, schwingt da seine Hoffnung auf eine Beziehung mit. Der Zuschauer hofft mit ihm, bis zu später Stunde Lydias Freund erscheint. 

Finale

Am Ende muss Paul die High School verlassen, während Angus verbleiben darf. Das ist das Drama: In dem Moment, wo beide sich angefreundet haben, trennen sich ihre Wege. „Es ist das rechte Auge, in das man gucken muss“, verrät „Glubschauge“ dem Jungen zum Abschied. Das Drama hat aber auch gleich wieder eine Wendung parat. Denn zum einen wird Angus nicht auf die Militärakademie strafversetzt, was 1971 in den USA tödlich enden kann (s. Marys Sohn), zum anderen ist es für Paul vielleicht auch mal an der Zeit, etwas Neues in seinem Leben zu beginnen. Es gibt also Hoffnungen und das ist schön. „The Holdovers“ ist eine kleine Filmperle.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "The Holdovers".

Ein leichtes Mädchen (Rebecca Zlotowski) F 2019

Was für eine wundervolle kleine Coming-of-Age-Geschichte! Bei deren Entwicklung hat die französische Regisseurin Rebecca Zlotowski sich von einem Zeitungsartikel inspirieren lassen. Heldin ist die 16-jährige Naïma (Mina Farid), die im südfranzösischen Cannes lebt. Im Voiceover bekommen wir Einblicke in ihr Leben. Zusammen mit Freund Dodo interessiert sie sich für Schauspielerei, aber eigentlich auch nicht so richtig. Es sind Sommerferien und sie lässt sich erstmal treiben, bis ihre sechs Jahre ältere Cousine Sofia aus Paris zu Besuch kommt. Die ist „Ein leichtes Mädchen“, verdient ihr Geld wahrscheinlich als Edelprostituierte und ist so ungefähr das Gegenteil von der eher braven und schüchternen Naïma. Das ist sehr schön kontrastiert und deshalb erzählerisch ertragreich.

Die Geschichte

Jedenfalls ist Naïma fasziniert von der erfahrenen, freizügigen Cousine und begibt sich gern in deren Kielwasser. Sofia glaubt nicht an die Liebe, sondern an den nächsten Kick: „Du musst die Dinge immer selbst bestimmen.“ Ein Resultat ist die Einladung auf die Motoryacht von Eigner Andres und seinem Adlatus Philippe. Sofia hat keine Probleme, sich in der Welt der Reichen zu bewegen. Für teure Geschenke nächtigt sie auf der Yacht, während Naïma sich hin- und hergerissen fühlt. Bei einem Bootsausflug flirtet sie mit Philippe. Doch der hält sie auf Distanz. Als Andres der beiden Mädchen überdrüssig wird, lässt er einen kostbaren Sextanten verschwinden und beschuldigt Sofia und Naïma des Diebstahls. Beide müssen die Yacht verlassen.

Die Figuren

Mit den unterschiedlichen Reaktionen der beiden Mädchen auf diesen Rauswurf stellt der Film auch gleichzeitig Sofias Liebes- und Lebensmodell in Frage: Während Naïma sich über diese Ungerechtigkeit empört, ist Sofia zutiefst verletzt. Für ihre Hingabe ist sie zwar mit teuren Geschenken belohnt, aber am Ende wie der letzte Dreck behandelt worden. Auch die Brüchigkeit ihres Charakters ist einer der Stärken dieses Films. Wenn die coole, selbstsichere Fassade bröckelt, wird ihre Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit transparent.

Der Schutzengel

Kinder, Jugendliche, auch Heranwachsende brauchen manchmal einen Schutzengel, um unbeschadet durchs Leben zu kommen. Naïma hat das Glück, auf Philippe zu treffen, der als eine Art Manager für Yachtbesitzer Andres fungiert. Der charakterisiert seinen Freund Philippe so: „Er erkennt den Wert der Dinge.“ Nicht nur der Dinge, müsste man ergänzen. Schon beim ersten Besuch auf dem Schiff, als Naïma auf einem Sofa einschläft, deckt er sie mit einer Wolldecke zu. Später schützt er Naïma, indem er ihre Avancen zurückweist: „Du bist noch ein Kind.“ Gleichwohl erweist er ihr Respekt und Würde, indem er einen der Bediensteten auffordert, sich für einen Rüffel bei Naïma zu entschuldigen: „Sie ist unser Gast.“

Philippe hat auch den Mut, Andres die Stirn zu bieten, nachdem dieser die beiden Mädchen fälschlicherweise des Diebstahls bezichtigt und entzieht ihm die Freundschaft: „Nenn’ mich nie wieder Sokrates.“ Beim Abschied in der Marina stärkt er Naïmas Selbstvertrauen, indem er ihr „Charakterstärke“ attestiert. Philippe hat Anteil an ihrem Erwachsenwerden. Ihm ist auch der Film gewidmet, wie wir im Nachspann erfahren.

Finale

Am Ende tritt Naïma ihre Ausbildung als Köchin an. Sie entscheidet sich – erstmal – für das Bodenständige. „Bist du bereit, Chefin?“ fragt Ihr Ausbilder sie am ersten Arbeitstag. „Ja, ich bin bereit“, kommt ihre Antwort – ohne Umschweife, klar und deutlich. „Ein leichtes Mädchen“ ist ein filmisches Schwergewicht und demonstriert auch, welche Bedeutung dem 6. Baustein der „7 Säulen der Filmgestaltung“ zukommt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "Ein leichtes Mädchen".

Station Agent (Tom McCarthy) USA 2003

„Station Agent“ ist eine kleine, ungewöhnliche Tragikomödie, mit sehr originellen Protagonisten und ein paar dramaturgischen Defiziten. Dieser Independent-Film zeigt auch, was in der US-amerikanischen Filmindustrie mit all ihren Schattenseiten möglich ist. Produktionskosten von gerade mal einer halben Million Dollar stehen weltweiten Einnahmen von knapp neun Millionen gegenüber. Chapeau!  

Figuren

„Station Agent“ hat sehr interessante, prägnante Protagonisten. Allen voran der kleinwüchsige Held Finbar „Fin“ McBride (Peter Dinklage). Wenn er im Supermarkt von der Kassiererin aufgrund seiner Körpergröße gar nicht wahrgenommen wird, ertappt man sich beim Schmunzeln. Zugleich bekommt man eine Ahnung von erlittenen Demütigungen, wobei „Zwerg“ noch zu den harmloseren Lästereien gehört. Aber es gibt auch originelle Bemerkungen. So fragt ihn das Schulmädchen Cleo ganz unbekümmert, in welche Klasse er denn geht. 

Drei Freunde

Tom McCarthy gönnt dem Helden eine Entwicklung. Anfangs ist es Fin, der allen vermittelt, in erster Linie seine Ruhe zu wollen. Erst als die labile Olivia Harris (Patricia Clarkson) gleiches von ihm einfordert und er sich nicht an diese Vorgabe hält, reißt er die selbst errichteten Schutzmauern ein. Damit rettet er nicht nur ihr Leben. Am Ende hat Fin gelernt, dass Ruhe gar nicht immer so gut ist.

Der Zweite im Bunde ist der Imbissbesitzer Joe Oramas (Bobby Cannavale), der eigentlich nur seinen Vater im mobilen Verkaufswagen vertritt. Er hat im besten Sinne etwas Kindliches, ist neugierig, unternehmungslustig und verspielt. Vor allem äußert er unverblümt seine Meinung. „Oh shit“, ist erst mal alles, was ihm bei seiner ersten Begegnung mit Fin einfällt. Die selbe Einschätzung entfährt ihm angesichts von Olivias Gemälden. Außerdem ergreift er Partei für Fin, als zwei seiner Gäste sich abfällig äußern. Joe ist ein echter Freund, ein Glücksfall für Fin und den Film.

Komplettiert wird das Trio von der verhuschten, ca. 40-jährigen Olivia, die unter dem Verlust ihres Sohnes und der Trennung von ihrem Mann leidet. Sehr schön ist auch die Meeting-Scene, als Olivia in Schlangenlinien mit ihrem Wagen auf der Straße fährt und Fin sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit bringt. Zwischen den beiden entwickeln sich zarte Bande, die Olivia letztlich helfen, zumindest vorerst wieder in die Spur zu kommen. Diesem Dreigespann schaut man einfach gern zu.

Schwachpunkte

Der Film hat einige Längen. Gelegentlich sieht man Fin herumspazieren, ohne dass ein erzählerischer Mehrwert entsteht. Was sollen uns Zwischenschnitte von Bahngleisen sagen, außer dass es sich hier um Bahngleise handelt? Olivias Freundin Janice, die einmal auftaucht, hat nun wirklich keine Handlungsrelevanz. Joe verhält sich unserem Helden gegenüber von Anfang an neugierig und freundlich. Das ist natürlich dramaturgisch nicht so toll. Insgesamt gibt es zu wenig Gefahrenmomente für Fin. Einmal landet er sturzbetrunken im Gleisbett, aber das war’s dann. Zu Beginn des Films erfahren wir zwar, dass er Modelleisenbahnen repariert, aber nicht wovon er nach seinem Umzug lebt. Auch oder gerade wenn man ein Haus – zumal so eine Bruchbude – erbt, benötigt man Geld. Die Thematisierung seiner Existenzkämpfe bleibt leider ausgespart.

Lösungen

In der Beziehung von Fin und Joe wäre eine Odd-Couple-Konfiguration  dramaturgisch ertragreicher gewesen. Also, Joe der griesgrämige, mit allen erdenklichen Vorurteilen ausgestattete Nachbar. Zudem hätte sein Imbisswagen nicht mobil sein dürfen. In einer Zwangslage hätte die Dramatik bestanden. So kann er sich beim ersten handfesten Konflikt aus dem Staub machen, was er ja dann auch tut. Hier wäre denkbar gewesen, dass ihm der alte abgestellte Eisenbahnwaggon gehört. In dem räumt Fin zwar ab und zu auf, aber ansonsten hat dieser keine Funktion. Mit dem Waggon hätte Joe sich nicht einfach davonmachen können. Am Ende hätte das Trio dort ein kleines Eisenbahn-Restaurant eröffnen können, mit Joe als Koch, mit Fin als Kellner und Olivias Gemälden an den Wänden.

Fazit

Das Ende von „Station Agent“ wirkt etwas überraschend. Andererseits sieht man die drei Freunde – nach Trennung und Selbstmordversuch – vereint. Sie haben einander Halt gegeben. Das gibt Hoffnung. Den Wunsch nach Isolation werden weder Fin noch Olivia so schnell wieder artikulieren. „Station Agent“ ist eine kleine, unprätentiöse Perle.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 4 blaue Smileys und 3 schwarze traurige Gesichter für "Station Agent"

About Schmidt (Alexander Payne) USA 2002

Von der ersten Sekunde an wird in dieser Tragikomödie der amerikanische Traum vom familiären Wohlstand auf eindrucksvolle Weise demontiert. Aber anders als in Ang Lees „Der Eissturm“ ist in „About Schmidt“ der gnadenlose Blick hinter die beruflichen und familiären Fassaden nie distanziert. Er ist stets ebenso böse wie liebevoll. Die Ausstattung, die Requisiten, die Kleidung, die Schauspieler – alles stimmt bis aufs I-Tüpfelchen. Allen voran Jack Nicholson in der Rolle des Versicherungsmathemathikers Schmidt, dessen Hang zu Infantilitäten wie zum Beispiel in „Departed“ (Martin Scorsese) hier keinen Platz hat. Als Durchschnittsbürger kann er zeigen, dass er ein überdurchschnittlicher Schauspieler ist. Dazu trägt auch die unglaubliche Konzentration der Geschichte auf ihren Helden bei. Schmidt ist praktisch in jeder Szene präsent. Es gibt keinen Schnickschnack, keine Ablenkungsmanöver, keine Unausgegorenheiten. Entscheidenden Beitrag dazu leistet die literarische Vorlage von Louis Begley, dessen Biografie sich liest wie ein Abenteuerroman und einen Exkurs wert ist.

Schwachpunkte

Kleines Manko in diesem ansonsten grandiosen Film ist der duchschnittliche Ausschlag der Spannungskurve. Die Bedrohung für den wohlsituierten Rentner Schmidt ist nicht existenziell wie für die Protagonisten in „Fahrraddiebe“. Da hätte man Schmidt das Leben durchaus noch schwerer machen können, auch wenn sein Eintritt ins Rentenalter jede Menge unliebsame Überraschungen in petto hat. Angefangen vom plötzlichen Tod seiner Ehefrau Helen, mit der er 42 Jahre verheiratet war, die – wie sich herausstellt – eine Affäre mit seinem besten Freund hatte, über die distanzierten Begegnungen zur einzigen Tochter Jeannie und deren Verlobten, dem einfach gestrickten Randall. Die bevorstehende Hochzeit der beiden ist Anlass für eine Reise, für ein Roadmovie, um den Mysterien des letzten Lebensabschnitts auf die Spur zu kommen. 33 Jahre nach „Easy Rider“ (Dennis Hopper) endet die Odyssee für Jack Nicholson aber nicht tödlich, sondern nur scheinbar aussichtslos.

Finale

Die Lösung liegt in der Etablierung der Brieffreundschaft zum tansanischen Jungen Ndugo, die Schmidt 22 Dollar im Monat kostet. Während er seine Briefe schreibt, erfahren wir durch seine Stimme im Off ungeschminkte Einblicke in seine Gefühlswelt. Das ist schon ein genialer Schachzug. Im Grunde ist das Briefeschreiben für Schmidt nichts anderes als eine Therapie, eine Möglichkeit des Austausches, was das erstarrte Eheleben offensichtlich schon lange nicht mehr leistet. Die Brieffreundschaft entsteht eigentlich erst am Schluss, als Schmidt selbstkritisch über die eigene Bedeutungslosigkeit räsoniert, den Sinn des Lebens in Frage stellt. In diesem Moment kommt die Rückmeldung von Ndugu, dessen kindliche Zeichnung Schmidt zu Tränen rührt und seinen Defätismus erschüttert: Vielleicht ist doch nicht alles sinn- und bedeutungslos? Vielleicht kann man doch Spuren hinterlassen? Dass dem so sein kann, demonstriert „About Schmidt“ auf kluge und wundervolle Weise.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "About Schmidt"
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