„Thumbsucker“ von Mike Mills ist eine originelle Coming-of-Age-Geschichte, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Walter Kirn. Schon dieses Erstlingswerk zeigt das Faible und das Talent des Regisseurs für den ganz alltäglichen familiären und außerfamiliären Beziehungswirrwarr. Dabei geht Mike Mills konzentriert, ohne Schnickschnack und lakonisch vor. Sehr schön. Für einen ehemaligen Grafikdesigner, Werbefilmer und Musikclip-Regisseur schon bemerkenswert.
Die Geschichte
Held ist der 17-jährige Justin, der zusammen mit Eltern und kleinerem Bruder in einer Vorstadtsiedlung lebt. Irgend etwas scheint mit Justin nicht zu stimmen, denn er nuckelt immer noch am Daumen. Abhilfe soll ausgerechnet der esoterisch angehauchte Zahnarzt (Keanu Reeves) schaffen. Aber auch dessen Hypnose ändert wenig an Justins Selbstzweifeln, die zudem von der Abweisung seines Schwarms Rebecca neue Nahrung erhalten. Eine scheinbare Änderung bringt die eilig bemühte ADHS-Diagnose mit den verordneten Psychopharmaka. Justin wirkt irgendwie beflügelt, kann sogar im Debattierclub glänzen, bis er mit seiner vermeintlichen Wesensänderung konfrontiert wird. Die Medikamente landen im Mülleimer. Der Junge scheint, bei sich angekommen zu sein, was auch seine Annäherung an Rebecca belegt. Aber für das Mädchen ist er nur ein Versuchskaninchen, Mama Audrey (Tilda Swinton) hat wohl eine Affäre mit Fernsehstar Matt Schramm und sein Bruder ist ein kleiner Advocatus Diaboli. Ist noch ein weiter Weg bis Justin am Ende zu neuen Ufern aufbrechen kann und sein Zahnarzt diagnostiziert: „An dir war nie etwas merkwürdig“.
Stärken
Sehr schön sind die teilweise eingebauten Ellipsen, zum Beispiel als Justin mit seinem Bruder den Zahnarzt beim Radrennen von der Strecke abbringt. Bei den pinkfarbenen Zwischentiteln und Animationen macht Mike Mills seine berufliche Vorgeschichte transparent. Sehr schön sind auch Justins eingestreute Tagträume, zum Beispiel als Rebecca ihn hingebungsvoll küsst. Diese Visionen bringen uns ganz nah an den Helden und seine Befindlichkeiten. Die Figur des kleinen Bruders ist ein dramaturgisch geschickter Schachzug. Sein Aufgabe ist es, Justin das Leben möglichst schwer zu machen: „Normalerweise vögelt man in deinem Alter.“ Überhaupt ist die Besetzung hervorragend. Mama Audrey (Tilda Swinton) agiert brillant. Den Debattierclub der Highschool und seinen angedockten Wettbewerben sollte sich das hiesige Bildungssystem zum Vorbild nehmen.
Schwächen
Die Figur des Zahnarztes wirkt ein bisschen künstlich. Schwer zu glauben, dass die Zähne eines 17-Jährigen korrigiert werden müssen, nur weil er am Daumen nuckelt. Den Zahnarzt hätte man einfach durch einen Therapeuten ersetzen können. Mike Mills Defizite liegen im dramaturgischen Bereich. Ist alles ganz originell, auch lakonisch und gut beobachtet, aber nie sonderlich dramatisch. Genau das ist auch das Problem in seiner späteren Tragikomödie „Beginners“. Die Trennung von Rebecca („Wer hat gesagt, dass wir zusammen sind?“) hätte er natürlich eskalieren müssen. In „Thumbsucker“ verpufft sie genauso wie die vermeintliche Affäre seiner Mutter.
Lösungen
Wie könnte man innerhalb der Spielanordnung dieses Manko beheben? Was wäre(n) denn die schlimmstmögliche(n) Wendung(en)? Darum geht’s ja. Wie wär’s denn gewesen, wenn Justin Rebecca von der vermeintlichen Affäre seiner Mutter erzählt hätte? Das Mädchen hat ja kurz vorher noch postuliert, dass man sich in einer Beziehung immer die Wahrheit sagen sollte. Also hält Justin sich einfach daran. Rebecca entpuppt sich aber als kleine Tratschtante, die das Gerücht überall verbreitet. So etwas hört man ja gern und erzählt es auch gern weiter. Dann hätte es richtig geknallt, gerade in den puritanischen Staaten. Desgleichen hätte man die Medikamente, anstatt sie zu entsorgen, auch verticken oder in Mengen schlucken können. Auch das hätte zusätzliche Probleme generiert.
Fazit
Insgesamt ist Mike Mills mit „Thumbsucker“ eine sehenswerte Coming-of-Age-Komödie gelungen, die ein hoffnungsvolles Ende hat.
