Kinder des Olymp (Marcel Carné) F 1943-1945

Angesichts der zeitgeschichtlichen Umstände kann man die Produktion dieses Meisterwerks als wahres Husarenstück bezeichnen. Unter den argwöhnischen Augen der nationalsozialistischen Besatzer gelang Regisseur Marcel Carné und seinem Drehbuchautor Jacques Prévert gegen Ende des 2. Weltkriegs ein packendes Melodrama. Nach den Auflagen der Nazis durften Spielfilme keine politischen Inhalte haben und nicht in der Gegenwart spielen. Also verlegten die Filmemacher das Geschehen ins Pariser Theatermilieu des 19. Jahrhunderts. Außerdem gelang es ihnen, eine Fülle von Künstlern ins Spielgeschehen zu integrieren, um sie vor einer Deportation ins Arbeitslager zu bewahren. Aus dieser Schutzmaßnahme resultiert das brodelnde Leben auf den Straßen des Films, das einem unentwegten Jahrmarktstrubel gleicht. Aus heutiger Sicht mutet „Kinder des Olymp“ wie ein opulenter Fantasyfilm an, der mit seinem zeitlosen Thema und starken Frauenfiguren gleichzeitig sehr modern wirkt.

Erzählmotiv

Das klassische Erzählmotiv von „Kinder des Olymp“ ist „Die unmögliche Liebe“ („Romeo und Julia“, „Die Brücken am Fluss„, „La Strada“ usw.) Wieso ist ein klassisches Erzählmotiv überhaupt so wichtig? Weil es archaische Erzählstrukturen gibt, die das notwendige dramatische Potenzial für eine funktionierende Geschichte enthalten (s.a. „Stoffe der Weltliteratur“ von Elisabeth Frenzel). Klassische Erzählmotive sind wie Räder, mit denen man ein Gefährt zum Laufen bringen kann. Ohne Räder wird es schwierig, dieses Vehikel zu bewegen.  

Die Geschichte

Ein amouröses Sechseck. Weibliche Hauptfigur ist die schöne Garance (Arletty), die gleich von vier Männern umworben wird: Da ist zum einen der draufgängerische, witzige, manchmal auch zynische Schauspieler Frédéric Lemaître (Pierre Brasseur), dann der zwielichtige, kriminelle Möchtegern-Dichter Pierre-Francois Lacenaire (Marcel Herrand), der wohlhabende, arrogante Graf Edouard de Monteray (Louis Salou) sowie der verträumte Pantomime Baptiste Debureau (Jean-Louis Barrault). Komplettiert wird das Sextett durch die Schauspielerin Nathalie (Maria Casarès), die Baptiste abgöttisch liebt und seine Ehefrau wird.

Die erste Begegnung

Tiefere Gefühle empfindet Garance aber nur für Baptiste, der Liebe ihres Lebens. Ihr Aufeinandertreffen ist eine der schönsten Meetingszenen der Filmgeschichte: Baptiste sitzt auf einer Bühne vor dem Théâtre des Funambules. Während sein Vater wortreich das abendliche Stück anpreist, wird einem Zuschauer die Taschenuhr gestohlen. Die unschuldige Garance gerät in Verdacht, steht sie doch genau neben dem Opfer des Diebstahls. Ein herbeigeeilter Polizist verhört den Bestohlenen und Zeugen. Aber der Einzige, der den wahren Täter beobachtet hat, ist Baptiste. Der liefert nun mit einer pantomimischen Einlage und zur Erheiterung des Publikums eine Schilderung des Tathergangs. Garance ist zutiefst berührt, hat Baptiste doch nicht nur ihre Unschuld bewiesen, sondern sie auch zum Lachen gebracht und ihre Gefühle geweckt. Auch Baptiste ist von der fremden Schönen fasziniert, die er am Ende im Karnevalstreiben aus den Augen verliert.

Der Traum

Während bei anderen Beispielen dieses Erzählmotivs die äußeren Umstände und Widrigkeiten eine Liebe unmöglich machen, sind es in „Kinder des Olymp“ die inneren Widerstände. Die Liebe zwischen Garance und Baptiste funktioniert nur, weil es ein Kommen und Gehen gibt, weil sie eigentlich gar nicht zusammenkommen wollen. Die Liebe als Traum. Eine dauerhafte Beziehung würde das Ende dieses Traums bedeuten, was beide zumindest ahnen oder fühlen. Vor allem der träumerische Baptiste personifiziert diese Variante des Erzählmotivs.

Suspense

Immer wieder hat der Zuschauer mehr Informationen als Teile der handelnden Personen. Es gibt bei einer Aufführung im Funambules eine wundervolle pantomimische Szene, in der Baptiste sich aus Liebeskummer mit einem Seil erhängen will. Irgendwann schaut er zur Seite und sieht hinter den Kulissen Garance und Frédéric im vertrauten Tête-à-tête. Sein Gesicht erstarrt. Nur der Zuschauer und seine Ehefrau Nathalie werden Zeuge seiner wahren Gefühle. Später vertraut der Kleiderhändler Jericho Nathalie an, dass ihre Rivalin wieder nach Paris zurückgekehrt ist. Wir wissen es vor den Liebenden, womit die Spannung geschürt wird. 

Die Dialoge

Geredet wird viel und manchmal etwas theatralisch. Aber wenn man sich auf dieses Stilmittel eingelassen hat – immerhin befinden wir uns im Theatermilieu -, dann geht es zur Sache. Die Dialoge sind schonungslos, ehrlich, manchmal auch doppeldeutig oder sarkastisch, aber nie langweilig. „Wenn du mich lieben würdest, würdest du nicht so viel Witze machen“, bringt Garance ihr Verhältnis zu Frédéric auf den Punkt. Später belehrt sie Baptiste: „Liebe ist doch so einfach“, um dann bis zum Ende exakt das Gegenteil zu praktizieren. Dramatisch ist auch die Szene, als Nathalie ihren Mann mit Garance in der Pension überrascht. Sie könnte zutiefst verletzt einfach fliehen. Aber Carné benutzt diesen Moment zur schonungslosen Konfrontation: „Antworte mir, Baptiste. Hast du wirklich immer an sie gedacht, sogar in der Nacht?“ Sein Schweigen ist beredt. Dann wendet Nathalie sich an Garance: „Sie gehen, man trauert Ihnen nach, aber zu bleiben, das ist etwas anderes.“ Nun hat die Liebhaberin Gelegenheit, Nathalie aufzuklären: „Auch ich war jeden Tag bei ihm.“ 

Fazit

Das Melodrama ist den mittellosen Zuschauern des damaligen Theaters gewidmet, die auf den billigen Plätzen in den obersten Reihen saßen (französisch: „paradis“). Auch 80 Jahre nach seiner Herstellung hat „Les enfants du paradis“ nichts von seiner emotionalen Kraft eingebüßt. Ganz großes Kino!

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Blue Bayou (Justin Chon) USA 2021

„Blue Bayou“ ist ein berührendes Melodrama mit authentischen Figuren und einer einfachen Geschichte nach wahren Begebenheiten: Dem aus Korea stammenden verheirateten Antonio droht die Abschiebung aus den USA, obwohl er dort seit 30 Jahren lebt und mit seiner Frau Kathy eine gemeinsame Tochter hat. Der Film ist psychologisch sehr gut gemacht. Die Handlungen der Protagonisten sind stets nachvollziehbar. Die Schauspieler sind hervorragend besetzt, allen voran die kleine Jessie (Sydney Kowalske), Kathys erste Tochter aus einer vergangenen Beziehung.

Erwartungshaltung

Immer wieder werden unsere Erwartungen durchbrochen und das ist gut so. Warum? Weil es sonst langweilig werden würde. Antonio sieht aus wie ein Gangster und bestätigt dieses Klischee, wenn er mit seiner Gang Motorräder klaut. Ansonsten ist er aber weich, kinderlieb und zärtlich zu seiner Frau. Er ist ein Traumatisierter, der sich nach und nach den Dämonen seiner Vergangenheit stellt. Streifenpolizist Ace, Jessies Vater, agiert anfangs ähnlich tumb wie sein Partner. Aber er entwickelt sich. Ace bereut sein Weggehen, versucht sich wieder einzubringen, wendet sich am Ende gegen seinen Partner und kämpft um seine leibliche Tochter. Auch das ist eine Wendung.

Kitsch

In etlichen Filmkritiken wird „Blue Bayou“ Kitsch vorgehalten (schreibt da eigentlich der eine vom anderen ab?). Was ist das überhaupt – Kitsch? Duden: „aus einem bestimmten Kunstverhältnis heraus als geschmacklos empfundenes Produkt der darstellenden Kunst …“. Alles klar?

Definition

Wenn wir zum Beispiel ein Liebespaar vor einem Sonnenuntergang sehen und der Mann haucht ein „ich liebe dich“ ins Ohr der Angebeteten, dann ist das wohl kitschig. Wenn Enkelsohn Danny in „Thelma – Rache war nie süßer“ seiner Oma auf einer Parkbank eine Liebeserklärung macht, dann ist das kitschig. Beide Situationen haben etwas Oberflächliches und Künstliches. Sie stimmen nicht und können deshalb auch keine echten Gefühle hervorrufen. Darum ginge es aber (u.a.) beim Erzählen von Geschichten.

Emotionen

Weil „Blue Bayou“ es schafft, tiefergehende Gefühle zu erzeugen, ist er auch nicht kitschig. Er ist berührend und hat damit ein wesentliches Ziel erreicht. Warum diese Berührungsängste mit Gefühlen? Genauso könnte man ja anderen melodramatischen Meisterwerken, wie „La Strada“ oder „Die Brücken am Fluss“ usw., die Erzeugung von Emotionen vorhalten, was schlichtweg Unfug ist. Im Grunde sind sie ein Qualitätsmerkmal, dessen Gelingen man anerkennen müsste.

Showdown

Das Ende von „Blue Bayou“ ist hochdramatisch. Bei Antonios Abschiebung auf dem Flughafen stößt auch Kathy mit ihren beiden Töchtern dazu, um ihn in die Fremde zu begleiten. Auch Ace ist mit von der Partie. Jetzt trifft Antonio eine Entscheidung, die ihm das Herz bricht, aber letztlich seinen Töchtern und auch seiner Frau ein besseres Leben ermöglicht. Er verlässt allein das Land, in dem er über 30 Jahre gelebt hat und in das es nun keine Rückkehr mehr geben wird. In Südkorea würden sie als unwillkommene Ausländer in unsicheren Verhältnissen leben. Antonio bringt ein Opfer, um Frau und Kinder zu schützen. Das ist das Drama. Jetzt ist er erwachsen geworden. 

Schwächen

Ein Schwachpunkt ist die männliche Hauptperson. Sie weckt teilweise nicht die Emotionen, die sie hervorrufen könnte. Antonio ist in erster Linie Opfer seiner Vergangenheit, fast ertränkt von der eigenen Mutter, misshandelt von den Pflegeeltern. Stets haben andere über sein Schicksal bestimmt. Er macht zu wenig Fehler, um ein veritabler Held zu sein („Es ist die Ehre großer Charaktere, schuldig zu sein“ Hegel). Ein einziges Mal ergreift Antonio in der Filmhandlung richtig die Initiative, als er bei seiner Abschiebung die Trennung von Frau und Kindern herbeiführt. Diese Passivität mag auch in der Mehrfachfunktion des Regisseurs begründet sein, der außerdem noch die Rolle des Drehbuchautors und des männlichen Helden innehat. Eine Konzentration auf das Regiefach wäre besser gewesen. 

Suspense

„Blue Bayou“ hat die selbe Spielanordnung wie „Die Brücken am Fluss“: Eine Beziehungsgeflecht von drei Erwachsenen und zwei Kindern. Aber in Clint Eastwoods Meisterwerk wird sofort eine Suspense-Geschichte etabliert: Der Ehemann fährt mit den beiden Söhnen für vier Tage auf eine Viehauktion. Alle Drei haben weniger Informationen als das Liebespaar und die Zuschauer. Das schafft die Spannung. Man weiß um die Unmöglichkeit dieser Liebe, hofft dennoch auf einen glücklichen Ausgang und zittert mit Francesca und Robert mit. Das ist konzentriert und perfekt konstruiert.

Informationsfluss

In „Blue Bayrou“ hat der Zuschauer einmal einen Informationsvorsprung gegenüber anderen Protagonisten, und zwar als Antonio sich am Motorraddiebstahl beteiligt. Ein Geheimnis, das relativ schnell enttarnt wird. Insgesamt erweckt der Film den Eindruck, als habe er sich eng an eine authentische Vorlage gehalten. Diese Orientierung an tatsächlichen Ereignissen birgt immer eine Gefahr in sich: Im Zweifelsfall wird ein Filmemacher nämlich nicht von ihnen abweichen. Schließlich ist die Geschichte ja so passiert. Aber die Form des fiktionalen Films benötigt im Idealfall auch Suspense, d.h. gestalterischen Spannungsaufbau und die kommt in diesem Melodrama zu kurz.

Lösung

Bei einem Zwischenfall im Supermarkt, der letztlich zum Konflikt mit der Ausländerbehörde führt, hätte Antonio allein sein müssen, ohne Kathy und Jessie. Die drohende Abschiebung hätte er vor beiden geheimhalten müssen. Diese Szene hätte auch eher positioniert werden müssen. Dann wäre es von Anfang an eine Suspense-Geschichte gewesen. Wir hätten Antonios Schweigen zwar nicht gutgeheißen, aber verstanden. Dann hätten wir richtig mit ihm mitfiebern können.

Fazit

„Blue Bayou“ ist ein packendes Melodrama, das psychologisch sehr gut konstruiert ist. Schwächen im Spannungsaufbau tun dem positiven Gesamteindruck keinen Abbruch.

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Ein kleines Stück vom Kuchen (Maryam Moghaddam, Behtash Sanaeeha) IRAN 2023

Das Adjektiv im Filmtitel hat aber auch gar nichts mit der Qualität dieses Melodramas zu tun. „Ein kleines Stück vom Kuchen“ erzählt die Liebesgeschichte zwischen der 70-jährigen Mahin und dem gleichaltrigen Faramarz und ist ganz großes Kino. Tolle Schauspieler, eine originelle Liebesgeschichte, ein klassisches Erzählmotiv, sehr konzentriert, ohne Schnickschnack – grandios. Die Regisseure haben auch eine hervorragende Beobachtungsgabe. Nicht nur das Kaffeekränzchen der alten Damen in Mahins Haus ist umwerfend inszeniert. Ihre Einsamkeit ist genauso lebendig eingefangen wie die Spontanparty.

Die Geschichte

Mahin lebt allein in ihrem Haus in Teheran. Tochter und Enkelkinder sind im Ausland, der Ehemann bereits vor Jahrzehnten gestorben. Beim Kaffeetrinken mit Freundinnen und beim Anschauen von Liebesschnulzen werden ihre Sehnsüchte transparent. In einem Lokal für Rentner nimmt Mahin ziemlich unverblümt Kontakt mit dem gleichaltrigen Taxifahrer Faramarz auf, von dem sie sich schließlich nach Hause kutschieren lässt. Bei heimlich gebunkertem Wein, Essen und Musik kommen sich beide langsam näher. Geheimnisse müssen sie nicht mehr voreinander haben. So mündet die feucht-fröhliche Sause in einer legendären Duschszene, bei der beide ihre Kleidungsstücke noch tragen. Leider erleidet Faramarz in ihrem Bett einem Herzanfall, woraufhin Mahin den Geliebten in ihrem Garten verbuddelt.

Die Figuren

Mahin ist etwas füllig, schläft nachts schlecht, findet erst in den Morgenstunden zur Ruhe. Sie ist mutig und sagt, was sie denkt. Ihre Zivilcourage bewahrt eine junge Frau vor dem Zugriff der Sittenpolizei. Mahins Annäherungsversuche ans andere Geschlecht sind eher direkt. Im Taxi des Auserwählten steigt sie vorne ein, nicht hinten. Von Schüchternheit keine Spur. Sie ist eine echte Heldin, interessant, originell und unvergesslich.

Auch wenn Faramarz anfangs etwas zurückhaltend wirkt, steht er ihr in nichts nach. Er hat Humor, ruht in sich und lässt sich auf dieses kleine Abenteuer ein. Das ist schön. Hätte er ja auch ablehnen können. Er kauft Viagra, das ihm später mit zum Verhängnis wird, und macht ihr eine Liebeserklärung: „Du bist wunderschön.“ Verliebte auf einer Wellenlänge, Seelenverwandte: „Wenn jetzt die Sittenpolizei kommt.“ – „Was sollen die uns schon anhaben?“ – „Sie könnten uns zwangsverheiraten.“ Gemeinsames Gelächter, in das man nur einstimmen kann.

Schwachpunkte

Die feucht-fröhliche Atmosphäre ist vielleicht etwas lang geraten? Hier hätte man sich schon kleine oder größere Störungen vorstellen können. Vielleicht hätte die neugierige Nachbarin noch mal aufkreuzen können? Vielleicht die Sittenpolizei oder eine besorgte Freundin? Aber der eigentliche Fehler ist die Ignoranz ihrer Zukunftspläne, die sie im angeheiterten Zustand schmieden. Faramarz erzählt nämlich, wie er früher mal verbotenerweise Wein hergestellt hat. Die Krüge hat er im Erdreich deponiert, wo sie vor der Sittenpolizei sicher waren und der Wein fermentieren konnte. Das hätte das letzte Bild sein müssen: Mahin vergräbt Weinkrüge in seinem Grab – da, wo der Traubensaft am besten gärt. Ihr gemeinsames Projekt, das auch nach seinem Tod weiterlebt.

Finale

„Es ist die schönste Nacht meines Lebens“ konstatiert Faramarz, um kurz darauf das Zeitliche zu segnen. Ein schöner Tod, nur nicht für die Hinterbliebenen. Ein Stück von ihrer Torte, die sie immer für besondere Anlässe serviert, kommt für ihn zu spät. Faramarz bekommt kein kleines Stück mehr vom Kuchen. Aber wir, die Zuschauer, haben ein großes Stück von der Torte bekommen. Ganz anders als in „Wolke 9“ von Andreas Dresen, der ebenfalls die Liebesgeschichte eines älteren Paares erzählt. Ein langweiliger, zutiefst deprimierender, furchtbarer Film, der Suizidgedanken aufkommen lässt.

Fazit

„Ein kleines Stück vom Kuchen“ ist heiter und traurig, aber er lässt uns nicht deprimiert zurück. Im Gegenteil. Trotz des dramatischen Endes strahlt diese Liebesgeschichte von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha eine unglaubliche Lebenskraft aus. Null Punkte auf der Defätismusskala.

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Berüchtigt (Alfred Hitchcock) USA 1946

„Berüchtigt“ (Notorious) von Alfred Hitchcock ist kein Krimi, auch kein Drama, am ehesten noch ein Spionagethriller, eigentlich aber ein Thrillermelodrama. Im Fokus stehen nämlich die Liebesgeschichte zwischen dem Geheimagenten Devlin (Gary Grant) und Alicia Huberman (Ingrid Bergmann) sowie die Gefahren, die aus ihrem Undercover-Einsatz resultieren. „Berüchtigt“ ist eines von Hitchcocks Meisterwerken und beruht auf einer Kurzgeschichte des Journalisten John Taintor Foote. Das Script stammt vom US-amerikanischen Autor Ben Hecht, der das Geheimnis guter Drehbücher wie folgt definiert hat: „Zwei Hunde, ein Knochen.“ „Berüchtigt“ ist eine Visualisierung seines Postulats, sowohl auf der Ebene des Melodramas als auch auf des Thrillers.

Die Geschichte

Der US-amerikanische Geheimdienst sucht Zugang zu einer Gruppe von Neonazis, die in Rio ihr Unwesen treibt. Agent Devlin wird auf die hübsche Alicia Huberman angesetzt, Tochter eines verstorbenen Nazis. Der ideale Köder. Die lässt sich auf das Doppelspiel ein. Zum einen will sie wieder gutmachen, was ihr Vater verbrochen hat, zum anderen verliebt sie sich in Devlin. In Rio lautet ihr Auftrag, sich an Alexander Sebastian, den Kopf der Naziclique, heranzumachen. Der Plan scheint aufzugehen, bis Alexander sie zur Heirat nötigt. Aus unterschiedlichen Gründen stellen Alicia und Devlin ihre Gefühle zurück. Die Heirat wird vollzogen. Doch Alexander kommt hinter das doppelte Spiel seiner Ehefrau und beginnt, in Zusammenarbeit mit seiner Mutter, Alicia zu vergiften. Im letzten Moment kann der misstrauische Devlin die Geliebte retten.

Klassisches Erzählmotiv

Meister Hitchcock wusste um das dramatische Potenzial der Vorlage: Ein Mann und eine Frau verlieben sich ineinander. Aus beruflichen Gründen muss er sich von ihr trennen, indem er sie einem anderen Mann zuführt. Das ist das Drama: Die Unmögliche Liebe (s.a. „Die Brücken am Fluss“, „La Strada“ usw.). Hier ein Konflikt zwischen Liebe und Pflichterfüllung. Für einen frühen Ausstieg aus den beruflichen Zwängen hätte ihre Liebe ein anderes Fundament bedurft, mehr Sicherheit, auch eine andere Zeit. Aber so müssen beide die größtmögliche Prüfung absolvieren. So hat Devlin eine Schuld auf sich geladen. Er war es, der Alicia zum Pakt mit dem Teufel verführt hat. Am Ende von „Berüchtigt“ gönnt Hitchcock dem Liebespaar ein Happy End, eine Wendung also. Aus der unmöglichen Liebe wird die mögliche: „Ich lass dich nie mehr allein.“ Das ist schön und haben sich beide auch verdient.

Suspense

Selbstredend gestaltet Hitchcock den Informationsfluss so, dass wir (die Zuschauer) die meiste Zeit mehr wissen, als Teile der handelnden Personen. Wir kontrollieren sozusagen das Geschehen. Wenn Alicia mit Alexander anbändelt, wissen wir um die Hintergründe. Vor allem wissen wir um die tödlichen Gefahren, die eine Enttarnung ihres Doppelspiels implizieren. Diese Gefahren werden von Hitchcock zum Teil genüsslich retardiert. Wenn sich beim Empfang in Alexanders Villa der Vorrat von auf Eis gelagerten Champagnerflaschen dem Ende zuneigt, wissen wir um die Konsequenzen. Denn der Schlüssel zum Weinkeller befindet sich gerade in Devlins Händen. Die Zwischenschnitte auf den schrumpfenden Vorrat sind das Damoklesschwert, das dicht über den Köpfen der Liebenden schwebt. So ist das richtig: Keine Rätselspiele, sondern Suspense! 

Die Figuren

Schon toll, wie Alicia als Femme fatale inszeniert wird: trinkfreudig, spitzzüngig und leicht bekleidet. Im Grunde eine sehr moderne Frauenfigur. Sehr schön sind auch ihre Ängste, dass Devlin sie in erster Linie als geeigneten Köder und als Schnapsdrossel sehen könnte. In gewisser Weise steht Devlin seiner interessanten Partnerin in nichts nach. Obwohl auch er sich sofort verliebt hat, verschanzt er seine Gefühle hinter dem Spionageauftrag: „Wisch die Tränen ab. Sie passen nicht zu dir.“ Die Offenbarung seiner Gefühle lässt er nicht zu, noch nicht. Die Wahrung der Fassade, die sich in Bitterkeit und Verachtung ausdrückt, lässt ihn schließlich verzweifeln. Er beantragt seine Versetzung nach Spanien. Erst im letzten Moment siegt sein Misstrauen: Sollte es andere Gründe für Alicias merkwürdiges Verhalten geben, als übermäßigen Alkoholkonsum?

Demgegenüber ist die Figur ihres Ehemanns schwach. Alexander Sebastian ist zu alt, um ernsthaft Alicias Partner zu sein. Er ist eher der väterliche Freund. Hier wäre ein gleichaltriger, d.h. gleichwertiger Rivale viel besser und dramatischer gewesen.

Weitere Schwachpunkte

Wenn Devlins Boss, Capt. Paul Prescott, beim ersten Dinner von Alicia mit Alexander ebenfalls im Restaurant erscheint, ist das viel zu gefährlich, zumal beide Männer sich ja – warum auch immer – aus der Vergangenheit kennen. Was will Prescott da überhaupt? Jedenfalls müsste Alexander sofort Verdacht schöpfen und diesem nachgehen. Damit wäre aber auch das ganze Unterfangen gescheitert.

Die Hochzeit von Alicia und Alexander wird einfach ausgeklammert. Gezeigt werden nur die Resultate: Einzug Alicias in die herrschaftliche Ville ihres Gatten, Empfang usw. Eine körperliche Annäherung zwischen den Eheleuten fällt unter den Tisch. Alexanders sexuelle Wünsche und Alicias Ablehnung wäre aber dramatisches Konfliktpotenzial gewesen, auch bei den geheimen Treffen mit Devlin. Seine süffisante Frage, wie es denn so in der Hochzeitsnacht war, darf man sich eigentlich nicht entgehen lassen, auch wenn das Geschehen vor 80 Jahren angesiedelt ist.

Die deutsche Synchronisation von 1951 machte aus der Naziclique ein Drogenkartell, aus dem Uranerz wurde Heroin. Das ist schon ein bisschen unbedarft, auch unfreiwillig komisch. Es weiß doch jedes Kind, dass südamerikanische Drogendealer anders aussehen als deutsche Nazis. Wie kommt man überhaupt auf so eine Idee? Angeblich wollte der Verleiher aus pekuniären Gründen so kurz nach dem 2. Weltkrieg den Deutschen keine Geschichte mit bösen, bösen Nazis zumuten. Wäre denkbar. Ein anderer möglicher Grund könnte aber auch politische Einflussnahme gewesen sein, denn im Original wird die IG Farben namentlich erwähnt. Der seinerzeit weltgrößte Chemiekonzern hatte sich zahlreicher Kriegsverbrechen schuldig gemacht und wurde nach Kriegsende zerschlagen.

Fazit

Trotz seiner Defizite hat „Berüchtigt“ auch 80 Jahre nach seiner Herstellung nichts von seiner erzählerischen Kraft eingebüßt. „ ‚Berüchtigt‘ ist Hitchcocks Quintessenz.“ (Francois Truffaut)

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Zeit der Unschuld (Martin Scorsese) USA 1993

„Zeit der Unschuld“ ist eine ebenso opulente wie distanzierte Verfilmung des gleichnamigen Romans von Edith Wharton. Ein Melodrama, das ein klassisches Erzählmotiv behandelt: Die Unmögliche Liebe. In der New Yorker Aristokratie von 1870 hat die Liebe des jungen, bereits verlobten Anwalts Newland Archer (Daniel Day-Lewis) zur verheirateten, aber getrennt lebenden Gräfin Ellen Olenska (Michelle Pfeiffer) keine wirkliche Chance. Eine Romeo-und-Julia-Variante über große Gefühle, ohne diese zu erzeugen. Auf „getAbstract“ existiert eine sehr gute Zusammenfassung der Geschichte.

Romanverfilmung

Die eigentlich interessante Frage ist, welche Romane sich zur Verfilmung eignen und welche eher nicht? Nicht nur in diesem Punkt haben Alfred Hitchcock und Clint Eastwood eine Gemeinsamkeit, nämlich ihr untrügerisches Gespür für das filmische Potenzial eines Stoffes. Sie haben sich vorzugsweise bei Autoren der B- oder C-Literatur bedient, wohlwissend dass die Qualität von geschriebenen Wörtern nur bedingt etwas mit der von laufenden Bildern zu tun haben. Clint Eastwood hat sich bei „Die Brücken am Fluss“ einer zwar erfolgreichen, aber eher drittklassigen Vorlage bedient. Er wusste, welche Dramatik diese unglaubliche Konzentration auf eine schicksalhafte Begegnung hat.

Cornell Woolrich

Alfred Hitchcock und Francois Truffaut haben mehrfach Werke des literarisch eher unbedeutenden Cornell Woolrich verfilmt, dessen Romane allesamt dramaturgische Lehrstücke sind. Beide Regisseure wussten, worauf es ankommt: Nicht auf die Formulierungskunst, sondern auf Suspense, Deadlines, Druck, Gefahren, Konflikte, Reduktion und veritable Helden. Hitchcocks „Fenster zum Hof“, nach einer Kurzgeschichte von Cornell Woolrich, spielt nur in einem Hinterhof, Clint Eastwoods „Die Brücken am Fluss“ an nur vier Tagen im Madison County, meist auf der Farm von Francesca Johnson (Meryl Streep). Beide Filme sind zeitlich und örtlich unglaublich komprimiert: Die Einheit von Zeit, Raum und Handlung.

Edith Wharton

Martin Scorsese hat mit „Zeit der Unschuld“ einen Roman verfilmt, der sozusagen in der Aristokratie der Literatur angesiedelt ist. Edith Wharton hat für dieses Werk den Pulitzer-Preis erhalten und war mehrfach für den Nobelpreis nominiert. Da darf die Verfilmung der Vorlage natürlich in nichts nachstehen. Diese Bürde ähnelt hohen Erwartungen, die meistens – wie auch hier – nicht erfüllt werden. Auch sonst lässt diese Adaption Zweifel an der Tauglichkeit für eine Verfilmung aufkommen.

Schwächen

Es gibt eine Fülle von Personen, deren Funktion bis zum Schluss nicht richtig deutlich wird. Es gibt keine Reduktion, dafür einen ständigen Wechsel von Schauplätzen. Es gibt keine zeitliche Komprimierung, sondern die Geschichte einer unerfüllten Liebe über einen Zeitraum von über 25 Jahren. Es gibt codierte Dialoge, weil die Protagonisten, als Opfer enger gesellschaftlicher Regeln, fast nie frei aussprechen können, was sie eigentlich denken. „Hieroglyphenwelt“ nennt die Erzählerin diese Kommunikationsform. Es bleibt einfach zu Vieles im Interpretationsbereich.

Protagonist

Newland Archer ist zwar nicht feige, hat aber letztlich nicht das Format, sich über das vorhandene Regelwerk hinwegzusetzen. Es bleibt bei sehnsuchtsvollen Wunschträumen oder selbstmitleidigen Klagen. All dies trägt leider nicht zur Anteilnahme bei. Die manierierten Kamerafahrten von Michael Ballhaus sind visueller Ausdruck dieser Distanz. Alles sehr schick hier.

Fazit

In der Verfilmung von „Zeit der Unschuld“ dominieren die guten Absichten. Letztlich ein stylisches, getragenes, dialoglastiges High-Society-Melodrama, das kaum Gefühle erzeugt und den Zuschauer eher ratlos zurücklässt.

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Benny & Joon (Jeremiah S. Chechik) USA 1993

„Benny & Joon“ von Jeremiah S. Chechik ist eine märchenhafte Liebesgeschichte, die das Zusammenleben mit psychisch Behinderten thematisiert. Sehr schön ist die ganz irdische und wenig märchenhafte Ausgangssituation für den Automechaniker Benny (Aidan Quinn): Nach dem Unfalltod der Eltern fühlt er sich für seine psychisch kranke Schwester Joon (Mary Stuart Masterson) verantwortlich. Dabei wirft der Film die Frage auf, inwieweit man sich für einen anderen Menschen aufopfern und das persönliche Wohlergehen hinten anstellen sollte? Wo ist die Grenze? Wann kippt eine Hilfestellung für andere Menschen ins Gegenteil? Im Grunde kann man diese Fragestellung auf andere Abhängigkeitsmodelle übertragen. Also, kann zum Beispiel die übermäßige Fürsorge einer alleinerziehenden Mutter für ihr einziges Kind nicht kontraproduktiv sein? Ist die Aufopferung für ein pflegebedürftiges Elternteil sinnvoller als die Betreuung in einem Seniorenheim usw.?

Die Geschichte

Schon gleich zu Beginn weist Benny die Avancen einer jungen Kundin zurück. Dabei dominieren Missverständnisse. Während die junge Frau die Absage auf ihre Person bezieht, wissen wir den wahren Grund. Benny ist ein Gefangener seines Verantwortungsgefühls für seine pflegebedürftige Schwester. Das ändert sich erst, als Joon beim Pokern mit Bennys Freunden den scheinbar nichtsnutzigen Sam (Johnny Depp) „gewinnt“. Der neue Untermieter erweist sich mit seinen originellen und komödiantischen Einfällen allerdings schon bald als Glücksfall und kann Joons Herz erobern. Darauf reagiert Benny eifersüchtig, weshalb er Sam hinauswirft. Erst als Joon auf ihrer gemeinsamen Flucht mit Sam in der Psychiatrie landet, erkennt Benny seinen Fehler. Trickreich gelingt es ihm zusammen mit Sam, Joon aus der Klinik zu „befreien“. Sie wagt den Sprung in die Eigenständigkeit und will mit Sam zusammenziehen.

Die Figuren

Der Film punktet mit interessanten und originellen Figuren. Man versteht Bennys Motive, die im Grunde ja nicht egoistisch sind. Man zittert mit ihm mit, dass er doch noch die Kurve kriegt und in der Lage ist, auch mit anderen Frauen eine Beziehung einzugehen. Sam ist eine Phantasiefigur, die manchmal im Baum hockt, Passagen von Horrorfilmen rezitiert oder Bügeleisen zweckentfremdet. Trotz seiner Stilisierung überwiegt das Positive. Er ist immer für eine Überraschung gut und kann mit seinem pantomimischen Talent andere Menschen zum Lachen bringen.

Da hinkt die Darstellung der Joon etwas hinterher. Eigentlich kommt ihre autistische Erkrankung nur einmal richtig zum Vorschein und zwar auf der Flucht mit Sam, weshalb sie dann ja auch in einer Klinik landet. Jedenfalls ist ihre Darstellung bei weitem nicht so intensiv, wie das Spiel des 9-jährigen Simon in „Das Mercury Puzzle“ (Harold Becker) oder das von Raymond, gespielt von Dustin Hoffman, in „Rain Man“ (Barry Levinson).

Dramaturgie

Interessanterweise heißt der Film „Benny & Joon“ und nicht „Sam und Joon“. Der Fokus liegt also nicht auf der Liebesgeschichte, sondern auf der Beziehung zwischen Krankem und Pflegendem. Folgerichtig kommt es zum Eklat zwischen den Hauptpersonen, als Benny den Pokergewinn seiner Schwester hinauswirft. Fachgerecht wird auch eine Deadline eingebaut, als die Psychiaterin Benny eröffnet, dass die Bewerbungsfrist für das in Frage kommende Pflegeheim in einer Woche endet. Das erhöht natürlich den Druck. Am Ende wagt Joon die Befreiung vom vereinnahmenden Bruder: „Du brauchst meine Krankheit“, wirft sie ihm an den Kopf. Mit Bennys Einsicht, seinem Loslassen gönnen die Filmemacher der Geschichte ein Happy End.

Ungereimtheiten

Das Haus, in dem „Benny & Joon“ wohnen, hat aber auch gar nichts mit den Vorstellungen von der Lebenswelt eines Automechanikers gemein. Es ist eher Bestandteil des Märchens und wirkt wie die Villa Kunterbunt in „Pippi Langstrumpf“. Wer jemals in der geschlossenen Abteilung einer Psychiatrie war, weiß wie schwer es ist, dort hineinzukommen, geschweige denn wieder heraus. Da hätten die Filmemacher sich etwas mehr Mühe geben können, zumal Hindernisse der Spannung ja nicht abträglich sind. Wieso Joons Psychiaterin in der fremden Klinik auftaucht und dort offensichtlich über Befugnisse verfügt, die über denen der stationierten Ärzte hinausgehen, ist ebenfalls seltsam.

Fazit

Trotz seiner Schwächen und Ungereimtheiten überwiegt das Positive. Dem Film gelingt es, mit einer ganz alltäglichen Problematik eine unterhaltsame Dreiecksgeschichte zu erzählen.

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Der Liebe verfallen (Ulu Grosbard)

„Der Liebe verfallen“ ist ein eher ruhiges, kluges und schönes Melodrama, das sich ganz auf seine herausragend agierenden Protagonisten konzentriert: Die verheiratete Illustratorin Molly Gilmore (Meryl Streep) und den Bauingenieur Frank Raftis (Robert De Niro), der Frau und zwei Kinder hat. Ihre Dramatik bezieht die Geschichte aus den Widrigkeiten im Leben zweier Menschen, die füreinander bestimmt sind, zueinander zu finden. Menschen kann man eben nicht so einfach umtauschen wie Bücher.

Opening

Damit sind wir bei der Meeting-Scene. Denn Molly und Frank stoßen kurz vor Weihnachten schwer bepackt am Eingang einer Buchhandlung zusammen. Ein Aufeinanderprall mit Folgen. Denn sie vertauschen ihre Geschenke, die für den jeweiligen Ehegatten bestimmt sind. Eine Metapher, denn nicht nur die Bücher befinden sich beim falschen Partner. Während der Umtausch der Bildbände problemlos erfolgt, dauert es Monate bis Molly und Frank sich in einem Vorortszug wieder treffen. Beide fühlen sich zueinander hingezogen und knüpfen zarte Bande. Diese Annäherung der Seelenverwandten wird sehr schön beschrieben. Nur ihre Hemmungen stehen einer Liebesbeziehung im Wege.

Liebe

Die Gefühlswelt der beiden Protagonisten spiegelt sich in den Begegnungen mit den jeweiligen Freunden wider. Das ist sehr kunstvoll montiert. Wenn Ed Lasky (Harvey Keitel) seinen Kumpel Frank ausfragt, antwortet Molly im Gespräch mit ihrer Chefin Isabelle (Dianne Wiest) und umgekehrt. Die Liebenden kommen sich näher über den Austausch von Privatem oder das Herumalbern auf einem Jahrmarkt. Aber je vertrauter sie werden, umso transparenter wird ihre innere Zerrissenheit. „Was tust du da?“ fragt Molly in einem Zwiegespräch mit ihrem Spiegelbild. Sie ist es auch, die den ersten Liebesakt in Eds Apartment abbricht: „Es tut mir Leid. Ich kann es nicht.“

Handwerk

Aber Ulu Grosbard und sein Drehbuchautor Michael Cristofer können es. Es gibt keinen Schnickschnack. Es geht um die Liebe des Lebens und sonst nichts. Die Dialoge sind originell, klug und pointiert. Immer wieder wählen die Filmemacher die richtige Entscheidung, zum Beispiel als Molly am Ende in ihren Wagen steigt, um Frank noch einmal zu sehen und auf regennasser Fahrbahn fast verunglückt wäre. Aber eben nur fast. Im letzten Moment kann sie ihren Wagen vor einem heranbrausenden Zug zum Halten bringen. Ihre innerliche Erschöpfung, dieses visualisierte „was tust du da?“ ist eigentlich viel dramatischer als ein Verkehrsunfall.

Schwachpunkte

Trotz dieser Szene mangelt es insgesamt an Dramatik. Wenn in Clint Eastwoods Meisterwerk „Die Brücken am Fluss“ die Liebenden aufeinander stoßen, dann verbleiben ihnen ganze vier Tage. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Deadline hat eben entscheidende Vorteile. Diese Spielanordnung ist konzentrierter und emotionaler. Die Hemmungen, die Widrigkeiten, die innere Zerrissenheit sind in „Die Brücken am Fluss“ genauso allgegenwärtig, aber sie sind dramatisch verdichtet.
Die Filmmusik in „Der Liebe verfallen“ erinnert ein bisschen an das Hintergrundgedudel in Supermärkten oder Kaufhäusern. Sie ist keine wirkliche Bereicherung für den Film.

Fazit

Natürlich ist es kein Zufall, wenn Molly und Frank ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung, also wieder zu Weihnachten, im Buchladen aufeinandertreffen. Aber sie verlieren sich in Plattitüden und schaffen es nicht, über ihre jeweiligen Trennungen zu sprechen. Erst später macht Frank eine Kehrtwendung und verfolgt die Geliebte, die er schließlich im Vorortszug in seine Arme schließen kann. Wieder der Zug. So schließt sich der Kreis. In diesem Fall ein stimmiges und schönes Happy End.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 6 blaue Smileys und 1 schwarzes trauriges Gesicht für "Der Liebe verfallen"

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Eine Fantastische Frau (Sebastián Lelio)

„Eine Fantastische Frau“ ist ein eher ruhiges Melodrama über „Die unmögliche Liebe“ der Trans*Frau Marina zum älteren Orlando in Santiago de Chile. Sehr schön ist die Konzentration auf die interessante Hauptfigur, die der Film zu keiner Zeit aus den Augen verliert. Ansonsten sind die Filmemacher leider Opfer ihrer guten Absichten und ihres eingeschränkten Könnens. Die Liebesgeschichte ist mit dem plötzlichen Herztod Orlandos nach fünf Minuten zu Ende. Das ist schade, denn wir hätten gern mehr über beide erfahren. Wie sollen wir Anteilnahme mit Marinas Trauer entwickeln? Die Begegnungen zwischen den Liebenden sind ähnlich kurz geraten wie die der Protagonisten in „Unterwegs nach Cold Mountain“, also letztlich eine behauptete Liebe. In Clint Eastwoods grandiosem Melodrama „Die Brücken am Fluss“ ist das zeitlich Verhältnis genau umgekehrt: 90% der Geschichte sind wir bei den Liebenden, nur den Rest der Zeit ohne sie.

Schwachpunkte

Wichtiger sind den Filmemachern offensichtlich die zum Teil selbst verschuldeten Demütigungen, die Marina nach Orlandos Tod erfährt. Da gibt es polizeiliche Ermittlungen, weil Orlandos Leichnam Hämatome aufweist. Die resultieren aus einem Sturz im Treppenhaus, als Marina ihn ins Krankenhaus transportiert. Dann taucht noch eine obskure Kommissarin für Sexualdelikte auf, die Marina verdächtigt, erpresst und demütigt. Da fragt man sich auch, ob es in Chile keine Pflichtverteidiger gibt, die die Belange von Beschuldigten vertreten?

Konsequenzen

Jedenfalls wirken diese Ermittlungen teilweise konstruiert und haben, was am Gravierendsten ist, keine Konsequenzen. Ein Verstoß gegen die dramaturgische Kardinalregel: Ein Held sollte in der jeweiligen Spielanordnung immer das Schlimmstmögliche durchleiden. Wer braucht schon Ermittlungen, die keine Konsequenzen haben? Apropos: Marina ist noch im Besitz eines Schlüssels des Verstorbenen zu einem Schließfach. Der gehört zu einem Spind in der Sauna, zu dem Marina sich trotz anwesender männlicher Gäste ungehindert Zugang verschaffen kann. Dann öffnet sie den Spind, in dem sich nichts, aber auch gar nichts befindet. So reiht sich eine Folgenlosigkeit an die andere. Das große Verpuffen.

Handwerk

Wenn Marina gegen den ausdrücklichen Wunsch von Orlandos Familie partout an der Totenwache und der Beerdigung teilnehmen will, hat das auch etwas Masochistisches. Ist doch klar, dass ihr dort Feindseligkeit entgegenschlägt. Um von einem Toten ungestört Abschied zu nehmen, bedarf es doch nicht eines Moments, in dem dessen ganze Sippe anwesend ist. Auch Marinas Visionen von Orlando, die ihr im Krematorium erscheinen, haben keinen erzählerischen Mehrwert. Sie erzeugen keine Emotionen. Die handwerkliche Limitiertheit der Filmemacher zeigt sich auch in der Schnittlänge einiger Szenen. Da darf man einige Male sekundenlang die Leere einer Wohnung bewundern, bevor jemand den Raum betritt.

Lösungen

Folgendes wäre besser gewesen: Der Film hätte sich bis zur Hälfte der Liebesgeschichte gewidmet. Nach Orlandos Tod hätte es eine notarielle Testamentseröffnung gegeben, bei der Marina zum ersten Mal Orlandos Ex-Frau und seinen Kindern begegnet wäre. Das Testament hätte sie zur Alleinerbin erklärt. Das hätte den Konflikt zwischen Marina und Orlandos Angehörigen eskaliert. Außerdem hätte die Kriminalpolizei ein Motiv für ihre Verdachtsmomente gehabt, die ansonsten nur spekulativ sind. So hätte man das untergeordnete Erzählmotiv „Unschuldig Beschuldigt“ fachgerecht in den Fokus rücken können. Insgesamt bleibt es leider bei der Behauptung, dass es sich hier um „Eine Fantastische Frau“ handelt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 2 blaue Smileys und 5 schwarze traurige Gesichter für "Eine fantastische Frau"

Solange es Menschen gibt (Douglas Sirk)

Obwohl „Solange es Menschen gibt“ vor über 60 Jahren hergestellt wurde, wirkt der Film – auch heute noch – richtig modern. Das liegt natürlich an der Figurenkonstellation und dem Fokus auf die Belange der weiblichen Protagonisten. Im Grunde bilden die beiden Witwen Lora Meredith (Lana Turner) und die farbige Annie Johnson (Juanita Moore) mit ihren kleinen Töchtern eine Patchworkfamilie. Die Theaterschauspielerin Lora kann sich um ihre Karriere kümmern und Annie hält ihr den Rücken frei. Eine braucht die andere. Eine produktive Lebensgemeinschaft.

Der erste Erzählstrang

Leider verzettelt Douglas Sirk sich in einer Vielzahl von Erzählsträngen, anstatt sich auf den dramatischsten Konflikt zu konzentrieren. Da ist zum einen die Liebesgeschichte von Lora zum Fotografen Steve (John Gavin). Genau so schnell wie sie sich annähern, gehen sie auch wieder getrennte Wege. Steve hat ein starres, heute würde man sagen antiquiertes Rollenverständnis: Der Mann bringt das Geld nach Haus und die Frau kümmert sich um Heim und Kinder. Das kollidiert allerdings mit Loras Karriereplänen. Steve reagiert eingeschnappt und macht sich aus dem Staub. Jahre später gibt es ein Déjà-vu. Wieder stellt Steve seine Eifersucht und Empfindlichkeit vornan, weshalb ihm jetzt der Spitzname Lebewohl-Steve verliehen wird. Überhaupt kommen die Männer schlecht weg in Sirks Melodrama. Auch das ist modern. Sie werden als überempfindlich, unflexibel oder gar rassistisch und gewalttätig dargestellt.

Freundschaften

Der zweite Erzählstrang in „Solange es Menschen gibt“ behandelt die Freundschaft der beiden Mütter. Die funktioniert eigentlich nur, weil Annie bereitwillig die Rolle der Haushälterin übernimmt. Das verschafft Lora Luft bei ihren beruflichen Ambitionen und wertet ihre Position auf. Eine schwarze Haushälterin galt als Statussymbol. Eine weitere Grundlage ihrer Freundschaft sind ihre kleinen Töchter, die sich blendend verstehen. Eine umgekehrte Rollenverteilung – die farbige Annie auf Jobsuche und die weiße Lora als Kindermädchen – wäre in den USA der 50er Jahre wohl unmöglich gewesen.

Aber was wäre denn passiert, wenn Annie im Laufe der Geschichte doch berufliche Ambitionen entwickelt hätte? Was wäre gewesen, wenn Lora ihre Freundschaft zu Annie irgendwann nach außen getragen hätte? Wenn sie beispielsweise zu einem Empfang mit ihrer farbigen Freundin aufgetaucht wäre? Das hätte zumindest ihre Karriere beeinträchtigt, wenn nicht beendet. Diese dramatische Wendung müsste man als Erzähler einer Geschichte aber durchexerzieren. Dieses Konfliktpotenzial darf man sich nicht entgehen lassen.

Liebe

Der dritte Erzählstrang ist die Beziehung Loras zu ihrer Tochter Susie, die sich im Teenageralter in Lebewohl-Steve verliebt. Eine Dreiecksgeschichte: Mutter und Tochter verlieben sich in den selben Mann. Die Karriere und die Abwesenheit der Mutter, die vorgeblich zum Wohle des Kindes stattfindet, hat eben den Preis der Entfremdung. Die Vertrauensperson ist nicht mehr die eigene Mutter, sondern eben die ständig anwesende Annie. Auch der Fokus auf diese Dreiecksgeschichte hätte ein taugliches Fundament für ein abendfüllendes Melodrama sein können. Allerdings agiert Susie hier noch reichlich kindlich und ist keine wirkliche Gefahr für die Mutter. Hier hätte man sich ein abgründigeres Verhältnis gewünscht, so wie es zum Beispiel Vladimir Nabokov in „Lolita“ erzählt hat.

Rassismus

Der vierte Erzählstrang beschreibt das schwierige Verhältnis von Annie zu ihrer erstaunlich hellhäutigen Tochter Sarah Jane. Die will mit Ausgrenzung und Rassismus lieber nichts zu tun haben und verleugnet schon zu Schulzeiten ihre leibliche Mutter. Sarah Jane genießt das Heranwachsen in einem von Weißen dominierten und finanzierten Haushalt. Jahre später kommt es zum Eklat als ihr erster (weißer) Freund sie verprügelt, nachdem er erfahren hat, wessen Tochter sie ist. Rassismus in Reinkultur. Sarah Jane will die Nabelschnur ein für allemal durchschneiden und flieht, erst in ein New Yorker Nachtlokal, dann nach Los Angeles ins Moulin Rouge. Auch Annies letzter Versuch einer Annäherung scheitert und sie stirbt, ohne sich mit ihrer Tochter ausgesöhnt zu haben. Fast hat es den Anschein, als würde die Schwarze sich opfern, um der familiären Gemeinschaft der Weißen nicht im Wege zu stehen.

Rührseligkeit

Das Zelebrieren ihres Ablebens hat Sirk den Vorwurf der Rührseligkeit eingebracht. Das ist nur zum Teil berechtigt, zum Beispiel wenn die tränenüberströmte Lora die Gutherzigkeit der sterbenden Freundin lobt: „Du bist so gut.“ Das ist schon nicht mehr grenzwertig. Andererseits spricht überhaupt nichts dagegen, einen traurigen Moment fachgerecht zu retardieren. Und darin ist Douglas Sirk ein Meister. Erst als es zu spät ist, gesteht Sarah Jane der Mutter ihre Liebe und bittet um Verzeihung. Dieses Zwiegespräch zwischen Tochter und dem mit Blumen geschmückten Sarg der Mutter ist an Intensität nicht zu überbieten. Das ist das größtmögliche Drama.

Lösung

Folgerichtig hätte Sirk sich auf diesen Erzählstrang konzentrieren sollen oder müssen. Im Grunde wäre es eine Variation von Cornell Woolrichs Roman „Das Geheimnis der falschen Braut“ gewesen, in dem die Ehefrau ihren Mann umbringen will, um ans Erbe zu kommen. Erst als sie erkennt, dass er sich aus Liebe zu ihr opfert, als es zu spät ist, verliebt sie sich auch in ihn. Ein vergleichbares Drama. Eine Variation von Woolrichs Roman wäre die Lösung für Douglas Sirk gewesen. Weniger ist eigentlich immer mehr.

Romanvorlage

Ein Verweis auf die Romanvorlage von Fannie Hurst kann keine Entschuldigung sein. Ein kompetenter Erzähler erkennt das Potenzial seiner Geschichten und kann sich konzentrieren. Alfred Hitchcock war ein Meister darin. Seine Vorlagen hat er nie unter den Bestsellern gesucht, sondern immer in der B- oder C-Literatur oder in Kurzgeschichten. Sein Meisterwerk „Das Fenster zum Hof“ basiert auf einer Erzählung von Cornell Woolrich. Wieder dieser Woolrich, dessen Bücher allesamt mehr dramaturgische als sprachliche Lehrstücke sind. Sie sind geradezu prädestiniert für Variationen.

Fazit

Die steile Karriere einer nicht mehr ganz „taufrischen“ (Zitat Theateragent Loomis) Möchtegern-Schauspielerin ist komplett unglaubwürdig. Hier liefern Filme wie „Citizen Kane“ (Orson Welles) oder „Bullets Over Broadway“ (Woody Allen) plausiblere und dramatischere Einblicke ins Showbusiness. Zumindest hätte man Annies Absturz durchspielen müssen. Aber da hat Douglas Sirk sich schon längst hoffnungslos verzettelt. Immerhin sind es keine verlorenen zwei Stunden. „Solange es Menschen gibt“ macht nachdenklich, gibt Anregungen und berührt.

7 Emojis zur Bewertung eines Spielfilms, hier 4 blaue Smileys und 3 schwarze traurige Gesichter für Solange es Menschen gibt.

Sinn und Sinnlichkeit (Ang Lee)

Aus vier Gründen erreicht „Sinn und Sinnlichkeit“ von Ang Lee nach einem Roman von Jane Austen nicht die Qualität von „Stolz und Vorurteil“ (Joe Wright):

Liebesgeschichte

1. Es fehlt die Fokussierung auf eine Liebesgeschichte. Der Film schwankt unentschlossen zwischen der Liaison von Elinor Dashwood (Emma Thompson) und Edward Ferrars (Hugh Grant) einerseits und der von Marianne Dashwood (Kate Winslet) und John Willoughby (Greg Wise) andererseits hin und her. In „Stolz und Vorurteil“ ist der Fokus auf die unglückliche Liebe von Elizabeth „Lizzie“ Bennet zu Mr. Darcy die treibende Kraft der Geschichte.

Figuren

2. Die männlichen Figuren in „Sinn und Sinnlichkeit“ benehmen sich wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Vor allem Edward schleicht ständig mit gequältem Gesichtsausdruck herum. Dagegen sprühen in „Stolz und Vorurteil“ zwischen Lizzie und Darcy die Funken – eine energiegeladene Atmosphäre, die sich auf den Zuschauer überträgt. Einzig Willoughby hat in „Sinn und Sinnlichkeit“ bis zu seinem Einknicken etwas Draufgängerisches, Freches. Ihm hätte man zusammen mit Marianne das Happy End gegönnt, womit wir beim dramaturgischen Kernproblem sind.

Perspektiven

3. Im Grunde hätte die Geschichte aus Willoughbys Perspektive erzählt werden müssen. Er hat sich in Marianne verliebt, verliert sein Vermögen und geht aus finanziellen Gründen eine Beziehung mit einer wohlhabenden Londonerin ein. Darin liegt das eigentliche dramatische Potenzial: Der innere Kampf, sich für die Liebe in ärmlichen Verhältnissen oder ein materielles Arrangement zu entscheiden. Ein Konflikt, bei dem man sicher die Lebensumstände im England des 19. Jahrhunderts berücksichtigen muss. Verglichen mit seiner Lage sind die Dashwood-Ladys finanziell abgesichert. Sie leben mit einer Apanage in einem zur Verfügung gestellten Cottage. Damit sind sie aber nicht den Qualen ausgesetzt, die Willoughby durchleben muss. Es wäre eine Variante von Theodore Dreisers brillantem Roman „Eine amerikanische Tragödie“ gewesen, also „Eine britische Tragödie“.

Werktreue

Eine interessante Frage ist, inwieweit man sich bei einer Literaturverfilmung von der Vorlage entfernen darf oder sollte? Darf man den Helden einfach austauschen? Wer ist das überhaupt in „Sinn und Sinnlichkeit“? Darf man ein Happy End zu einem tragischen Ende umformen? Jane Austen war eine Frau, aber Ang Lee ist ein Mann, der die Figur des Willoughby erzählerisch hätte füllen können. Den Credits kann man entnehmen, dass Emma Thompson das Drehbuch geschrieben hat. In solchen Fällen frage ich mich immer, was Schauspieler dazu sagen würden, wenn plötzlich Drehbuchautoren neben ihnen vor der Kamera agieren? Also, warum keine mutigere Adaption? Warum sollte man als Filmemacher vor Werken der Weltliteratur in Ehrfurcht erstarren? Welchen „Sinn und Sinnlichkeit“ ergibt eine Neuverfilmung ohne diese ganz persönliche Perspektive, ohne dramatische Optimierung?

Happy-End

4. Damit sind wir beim Happy End. In „Stolz und Vorurteil“ freuen wir uns am Schluss mit Lizzie und Darcy. In „Sinn und Sinnlichkeit“ beschleicht uns eher ein ungutes Gefühl. Marianne arrangiert sich mit dem 20 Jahre älteren Gutmenschen Colonel Brandon (Alan Rickman), wobei ihr innerer Kampf ausgespart bleibt. Elinor bekommt Edward, der auch bei der Hochzeit noch rumläuft als hätte er die Hosen voll. Beide Eheschließungen sind eigentlich kein Grund zur Freude, aber ein weiteres Argument für die Willoughby-Version. Schade, dass die Filmemacher so mutlos waren.

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