Krimi ist die umgangssprachliche Kurzform für „Kriminalroman“ oder „Kriminalfilm“. Er ist ein übergeordnetes Genre mit einer Vielzahl von Subgenres, deren Gemeinsamkeit in der Aufklärung eines Verbrechens liegt.
Alfred Hitchcock
Altmeister Alfred Hitchcock prägte dafür den Begriff des „Whodunits“. Spannung wird aus der Frage nach dem Täter, dem Motiv oder den Folgen einer Straftat generiert. Ein Krimi kann sowohl aus der Perspektive der Polizei (Polizeifilm), der Justiz (Gerichtsfilm), eines privaten Ermittlers (Detektivfilm) oder eines oder mehrerer Täter (Gangsterfilm) erzählt werden. Häufig anzutreffende Genremixturen sind die Krimikomödie, das Krimidrama oder der Actionkrimi.
Unschuldig Beschuldigt
Ein untergeordnetes Genre stellt der Krimi in Alfred Hitchcocks Lieblingsmotiv „Unschuldig Beschuldigt“ dar. Darin geht es zwar auch um die Aufklärung eines Verbrechens, wobei die Gefahren für den zu Unrecht beschuldigten Helden allerdings dominant sind. Somit sind diese Variationen primär den Thrillern zuzuordnen.
LISTE SEHENSWERTER KRIMINALFILME
16 Blocks (Richard Donner) USA 2006 A little Trip to Heaven (Balthasar Kormákur) USA 2005 Chinatown (Roman Polanski) USA 1974 City of Lies (Brad Furman) USA 2018 Der fremde Sohn (Clint Eastwood) USA 2008 Es geschah am helllichten Tag (Ladislao Vajda) D 1958 L.A. Confidential (Curtis Hanson) USA 1997 Stillwater (Tom McCarthy) USA 2021 Three Billboards Outside Ebbing, Missouri (Martin McDonagh) USA 2017 Zeugin der Anklage (Billy Wilder) USA 1957
Reden wir zunächst mal über das Positive: Im Stile eines Dokumentarfilms erzählt „Spotlight“ von mehreren Journalisten des „Boston Globe“, die einen Missbrauchsskandal durch katholische Priester aufdecken. Das Krimidrama ist informativ, teilweise erhellend und keine verlorene Lebenszeit. Er erinnert an „Vergiftete Wahrheit“ von Todd Haynes oder natürlich an „Die Unbestechlichen“ von Alan J. Pakula. Herausragend ist die Besetzung der Schauspieler bis in die kleinsten Nebenrollen, vor allem die der Opfer und Täter. Aber, und jetzt kommt das große ABER: „Spotlight“ hat eigentlich keine Geschichte, kein klassisches Erzählmotiv, keine Hauptperson, wenig Spannung, keinen Suspense. Es fehlen also die elementarsten Zutaten für die Gestaltung eines spannenden, unterhaltsamen Spielfilms.
Taugliche Filmstoffe
Da sind wir bei der interessanten Frage, was denn eigentlich ein tauglicher Filmstoff ist, der – wie hier – auf wahren Begebenheiten beruht? Wie erkennt man ihn? Er sollte eine Fülle von konflikthaften Interaktionen aufweisen. Er sollte seine Protagonisten in maximale Schwierigkeiten bringen, sie vor schwere Entscheidungen stellen. All das ist in „Spotlight“ nicht der Fall. Die Journalisten des „Boston Globe“ stoßen zwar auf Hindernisse, aber nicht auf Gefahren, Bedrohungen oder Gewissenskonflikte. Mit etwas Akribie kann das Spotlight-Team alle Probleme lösen.
Reale Fälle
In Clint Eastwood Meisterwerk „The Mule“ zum Beispiel – ebenfalls nach einer wahren Begebenheit – verdingt sich ein alter Mann mehr oder weniger wissentlich als Rauschgiftschmuggler für ein mexikanisches Drogenkartell. Hier liegen die Schwierigkeiten auf der Hand, die dann zusammen mit seinen familiären Problemen allesamt durchdekliniert werden. In „Barry Seal“ – wiederum nach einer wahren Begebenheit – gerät der Held von einem Schlamassel in den nächsten. Die Konzentration auf den Helden lässt uns bis zum bitteren Ende mitzittern
Dramaturgie
Eigentlich wählt Tom McCarthy die falsche Perspektive. Wer hätte denn im Szenario von „Spotlight“ in Gewissenskonflikte geraten können? Doch nicht die Guten. Genau. Das Geschehen wäre besser aus der Sicht eines Kirchenoberen erzählt worden. Sein Konflikt zwischen Aufklärung der Verbrechen und Loyalität wäre existenziell gewesen. Im britischen Spielfilm „Der Priester“ von Antonia Bird wird genau dieser innere Kampf durchexerziert.
Die Figuren
„Spotlight“ bietet ein ganzes Bataillon an Personen auf, wobei der Überblick schon mal verloren gehen kann. Wer war das denn jetzt eigentlich? Diese Invasion trägt nicht gerade zum Verständnis bei. Ist es dramaturgisch ertragreicher, einen bzw. wenige Helden ins Spiel zu bringen oder mehrere, wie in „Spotlight“? Antwort: Am besten eine zahlenmäßige Reduktion der Helden, weil wir dann unsere Gefühle besser synchronisieren können. Wir können tiefer eintauchen, eine intensivere Nähe herstellen. Wir können eher mit dem oder den Helden mitzittern. Also, am besten mit einem Helden (s. TOP 20).
Fazit
„Spotlight“ wirft ein eher spannungsarmes Schlaglicht auf einen Skandal, den auch einschlägige Magazine detailliert beleuchtet haben. Mit seinem brillanten „Stillwater“ und seinem früheren „Station Agent“ hat Tom McCarthy gezeigt, dass er sich sehr wohl auf seine Figuren und ihre Geschichten konzentrieren und Emotionen wecken kann.
„Reptile“ ist ein spannender Genremix aus Krimi und Thriller, der von seiner Story und Atmosphäre her an „L.A. Confidential“ von Curtis Hanson erinnert. Der hat allerdings mit den Cops Bud White und Ed Exley zusätzlich ein explosives Odd-Couple-Paar aufgeboten, während in „Reptile“ Detective Tom Nichols (Benicio del Toro) weitestgehend allein ermittelt. Wieder müssen wir schlucken, dass praktisch das komplette Dezernat einer Polizeieinheit aus Betrügern, Drogenhändlern und Mördern besteht. Das ist schon längst nicht mehr originell. Spätestens bei der Frage des Polizeichefs, „Weiß sonst noch jemand davon?“, erahnt man die tödlichen Konsequenzen einer wahrheitsgemäßen Antwort. Gucken diese Detectives denn keine amerikanischen Krimis?
Die Geschichte
Tom Nichols ermittelt im mysteriösen Mord an einer Immobilienmaklerin. Nacheinander geraten ihr Ex-Mann, der zwielichtige Eli Phillips sowie ihr Freund Will Grady (Justin Timberlake) in Verdacht. Am Ende stellt sich heraus, dass praktisch das komplette Morddezernat in Tateinheit mit Will Grady Häuser beschlagnahmt und sich bereichert hat. Beim Showdown werden drei hochrangige Polizisten erschossen und Will Grady verhaftet. So weit die Story.
Allerdings wirkt das ganze Geschäftsmodell ziemlich konstruiert. Selbst wenn die Polizei Häuser aufgrund von Drogenfunden zunächst beschlagnahmt, dann werden deren Besitzer doch alles versuchen, um wieder an ihr Eigentum zu gelangen. Und irgendwann sind solche Ermittlungen doch abgeschlossen oder verlaufen im Sande. Dann erhalten die rechtmäßigen Besitzer doch ihre Häuser zurück. Das im Film geschilderte Verfahren ist de facto eine Enteignung und mutet – gerade in der Hochburg des Kapitalismus’ – ziemlich unglaubwürdig an.
Dramaturgie
Die Irritationen kommen zuhauf, die Informationen häppchenweise. Das erzeugt erstmal Spannung. Man muss sich schon konzentrieren, um den Ermittlungen folgen zu können. Man weiß auch nicht, wer gut oder böse ist? Das ist geschickt gemacht. Allerdings verliert Regisseur und Autor Singer sich zunehmend im Rätselhaften. Irgendwann werden die produktiven Irritationen zu unproduktiven. Man sucht nach Antworten auf Fragen, bekommt aber keine.
Wer hat denn nun die Maklerin Summer Elsworth getötet? War es der Drogenkurier Rudi Rackozy? War es Detective Wally Finn? Oder war es doch ihr Freund Will Grady? Man kann spekulieren, erhält aber immer noch keine Antworten. Und das ist nicht gut. Warum? Weil es keine Kunst ist, sich ein Rätsel auszudenken und die Lösung zu verheimlichen. Nicht ohne Grund heißt es Knobelspaß. Also, hier übertreibt Singer ein ums andere Mal. Wir werden auch über den Mörder von Eli Phillips im Unklaren gelassen. Will Grady ist zwar anwesend, aber dann kommt noch jemand zur Tür herein, den wir nicht sehen. Wer war das? Ist Eli überhaupt ermordet worden? Dafür gibt es nur ein Indiz, aber keine Gewissheit. So geht das dann munter weiter.
Weitere Ungereimtheiten
Warum wird Captain Allen überhaupt beim Showdown erschossen? Der gehört doch zur Gangsterbande von „The White Fish“. Also, warum töten ihn seine eigenen Leute? Wieso wird Tom Nichols überhaupt mit diesem Mordfall betraut? Wäre doch für Captain Allen und seine Kumpane viel sinnvoller, wenn der Fall sozusagen in der Familie bleibt.
Informationsfluss
Der Film leidet unter einem Überschuss an Rätseln und Mangel an Informationen. Wie könnte man den Informationsfluss verbessern? Dazu Alfred Hitchcock: „Der Zuschauer sollte informiert werden, wann immer es möglich ist.“ So ist es. Man sollte den Zuschauern mit Informationen füttern, ihn zum Geheimnisträger und Komplizen machen. Nur das schafft Suspense. Überraschungen sind schön und gut, wenn sie denn funktionieren, aber was sind sie schon im Vergleich zu Suspense.
Suspense – was ist das?
Kasperletheater. Kasper hält sich im Vordergrund der Bühne auf, während im Hintergrund ein Krokodil auftaucht. Was machen die Kinder? Sie schreien: „Kasper. Pass auf!“ usw. Was macht Kasper (an so einer Stelle zeigen sich die wahren Meister eines kunstgerechten Spannungsaufbaus)? Kasper merkt nichts von der drohender Gefahr. Im ganzen Lärm fragt er die Kinder: „Was habt ihr gesagt?“ Was machen die Kinder? Die schreien natürlich noch lauter als vorher, zumal das Krokodil immer näher kommt. Diese Situation wird bis zum Exzess retardiert. Im allerletzten Moment – das Krokodil hat schon sein riesiges Maul geöffnet – dreht Kasper sich herum und schlägt das „Reptile“ k.o. Die Spannung funktioniert, weil die Kinder mehr Informationen haben als Teile der handelnden Personen (Kasper). Darum geht’s!
Die Form
„Reptile“ ist exzellent gemacht. Die Dialoge sind fragmentarisch, unkorrekt, manchmal hart oder witzig. Die Kameraarbeit, die Inszenierung ist hervorragend. Ein Beispiel: Als Tom Nichols mit seinem Partner Dan Cleary im Haus der Ermordeten nach Spuren sucht, öffnet er irgendwann eine Schranktür mit einem Spiegel. Jetzt sehen wir in der linken Bildhälfte, wie Dan Will Grady nach einer Lebensversicherung der Verstorbenen befragt. In der rechten sehen wir, was Tom an Utensilien aus dem Schrank befördert. Das ist super gemacht. Auch die Filmmusik unterstützt die latent düstere und bedrohliche Grundstimmung. Schade eigentlich, dass Grant Singer seine Rätselspielereien übertrieben hat. Es hätte ein ganz großer Wurf werden können.
Die Franzosen haben es schon drauf mit ihren Krimis. „Adieu, Bulle“ ist eine unkonventionelle, spannende Genremixtur aus Krimi und Thriller von Pierre Granier-Deferre. Ein Polit- und Copthriller, der vor allem durch seine originellen und schrägen Figuren lebt, die die Handlung mit schnodderigen Dialogen kompromisslos vorantreiben. „Adieu, Bulle“ ist ein harter und brisanter Film. In den Schießereien bleiben sowohl einige Gangster als auch Polizisten auf der Strecke. Inhaltlich behandelt er die illegale Verquickung von Politik, Justiz und Ermittlungsbehörden, also Korruption. Heutzutage hätten noch die Lobbyisten ihre Finger mit im Spiel. Aktuell ist die Thematik allemal.
Die Geschichte
Während eines Wahlkampfes wird eine Gruppe von Plakatierern von Gangstern überfallen. Dabei wird einer der Angegriffenen getötet ebenso wie ein herbeigeeilter Kripobeamter. Der kann allerdings vor seinem Ableben noch den Mörder identifizieren: Portor. Kommissar Verjeat (Lino Ventura) und sein Team um Inspector Lefèvre (Patrick Dewaere) blasen zur Jagd, wobei sie wenig zimperlich vorgehen. Schnell wird klar, dass der aalglatte Politiker Lardatte seine Finger im Spiel hat. Der versucht, sich seines Verfolgers zu entledigen, indem er dessen Versetzung erwirkt. Aber durch einen fingierten Korruptionsskandal erreicht Verjeat einen Aufschub. Den nutzt er, um Portor und Lardatte trickreich in die Falle zu locken.
Die Figuren
Kommissar Verjeat ist mürrisch, grimmig, stoisch und schlagkräftig – in doppelter Hinsicht. Vor dem Präsidium herumlungernde Harekrishna-Anhänger befördert er schon mal einen nach dem anderen auf die Straße. Verjeat ist nicht korrumpierbar und nimmt kein Blatt vor den Mund. „Mit Kriminellen umzugehen, ist etwas anderes als mit Politikern“, belehrt ihn Polizeichef Ledoux. „Sie werden mir eines Tages sicher den Unterschied erklären“, kontert Verjeat.
Ihm zur Seite agiert der nicht mInder originelle Lefèvre, der sich anfangs bitter darüber beklagt, dass eine Bordellchefin sie bei Ermittlungen „nicht schmieren“ wollte. Er ist ein Draufgänger, immer gut für eine ausgefallene Idee. Die beiden passen gut zusammen, auch wenn Verjeat ihn einmal ohrfeigt oder für verrückt erklärt. Lefèvre versteht, dass es väterlich gemeint ist. Dafür spart er seinerseits nicht mit guten Ratschlägen für seinen Chef: „Sie setzen gerade ihre Pension aufs Spiel.“ Den beiden schaut man einfach gerne zu, wie sie sich durch dieses Dickicht von Filz und Korruption schlagen.
Finale
Das Ende ist lakonisch und passt zum Grundtenor des Politthrillers. Portor hat Lardatte als Geisel genommen. Wieder soll Verjeat – wie zu Beginn schon einmal – die Geiselnahme gewaltfrei lösen. Aber er hat keine Lust mehr, für seine alten Kollegen und vor allem für Lardatte die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Verjeat beruft sich auf seine Versetzung und verlässt einfach den Tatort: „Adieu, Bulle“. Wir werden ihn vermissen.
Es handelt sich hier um ein herausragendes Krimidrama, in dem Matt Damon in der Rolle des Bohrarbeiters Bill Baker zeigen kann, dass viel mehr in ihm steckt als in Gestalt des Agenten Jason Bourne. Sowohl der Verleiher als auch Wikipedia klassifizieren „Stillwater“ als Thriller. Das ist aber nicht korrekt, denn nicht die Bedrohung für den Helden steht im Fokus, sondern das Familiendrama und die Aufklärung des Mordes, das Bills Tochter Allison zur Last gelegt wird. Damit wird auch ein klassisches Erzählmotiv behandelt, nämlich „Unschuldig Beschuldigt“, das Lieblingsmotiv von Altmeister Alfred Hitchcock. Aber es wird nicht aus der Perspektive der Tochter erzählt, sondern ausschließlich aus der Sicht des Vaters. Somit ist es auch ein „Whodunit“, aber ein geniales.
Die Figuren
Bill bringt alle Voraussetzungen für einen tauglichen Helden mit: Er hat einiges verbockt in seinem Leben. Er war Alkoholiker, vorbestraft – warum, erfahren wir nicht. Bill hat sich nicht wirklich um seine einzige Tochter gekümmert, wahrscheinlich auch nicht um seine Ex-Frau, die sich das Leben genommen hat. Die näheren Umstände erfährt man nicht. Jedenfalls begibt Bill sich auf Wiedergutmachungstour nach Marseille, wo Allison seit vier Jahren wegen angeblichen Mordes an ihrer Ex-Freundin Lina einsitzt. Im Hotel freundet er sich mit seiner Zimmernachbarin, der Theaterschauspielerin Virginie, und ihrer kleinen Tochter Maya an.
Unschuldig Beschuldigt
Beim Besuch im Gefängnis steckt Allison ihrem Vater einen Zettel für ihre Anwältin zu, in dem sie ihre Unschuld beteuert und einen gewissen Akim des Mordes bezichtigt. Sie möchte, dass der Fall neu aufgerollt wird. Die Anwältin zeigt allerdings überhaupt kein Interesse an diesen Informationen, weshalb Bill nun auf eigene Faust ermittelt. Schließlich gelangt er an einen Ex-Polizisten, der sich bereit erklärt, für 12.000 Euro Akims DNA mit den am Tatort gefundenen Spuren zu vergleichen. Bill begibt sich auf die Suche nach dem vermeintlichen Täter. Seiner Tochter versucht er mit einer Notlüge Hoffnung zu machen, indem er vorgibt, dass ihre Anwältin eine Wiederaufnahme des Falls betreibt.
Freundschaft
Hilfe findet Bill bei Virginie und ihrer Tochter, mit denen er sich anfreundet. Insbesondere die Annäherung an die kleine Maya ist sehr schön beschrieben und steht für all das Versäumte, das Bill bei seiner Wiedergutmachung nun bereinigen will. Mit einem Partyfoto sucht Bill in einem arabischen Viertel nach dem Verdächtigen, wobei er zusammen geschlagen wird. Im Gefängnis zeigt Allison sich schockiert über seine Alleingänge und seine Lüge, die sie inzwischen enttarnt hat. Es kommt zum Bruch zwischen Tochter und Vater: „Wehe, du tauchst hier noch mal auf!“
Zeitsprung
Aber Bill denkt gar nicht daran, den Fall auf sich beruhen zu lassen, auch weil er nichts mehr zu verlieren hat. Vier Monate sind vergangen und Bill ist mittlerweile bei Virginie eingezogen. Dort übernimmt er die Rolle eines Hausmannes und kümmert sich liebevoll um die kleine Maya. Geld verdient er auf einer Baustelle. Dann gibt es eine Wendung in der Beziehung zu seiner Tochter, die nach vierjährigem geschlossenen Strafvollzug nun regelmäßigen Freigang erhält. Bill ist ihre einzig erlaubte Begleitperson, was Allison notgedrungen akzeptiert.
Freiheit
Zusammen besuchen beide die Orte, an denen Allison gelebt hat, auch das Grab von Lina. Bei einem Abstecher zur Küste genießt Allison das Bad im Mittelmeer. Bill lädt seine Tochter auch in Virginies Wohnung ein, wo sie sich mit ihr und Maya anfreundet. Später warnt sie Virginie: „Er baut viel Scheiße. Ich weiß es, weil ich auch so bin.“ In derselben Nacht versucht Allison, sich zu erhängen, kann aber gerettet werden. Über ihre Beweggründe kann man momentan nur mutmaßen: War diese Dosis Freiheit zu viel oder liegt es an anderen Gründen?
Liebe
Sehr schön erzählt Tom McCarthy dann auch die Annäherung zwischen Bill und Virginie. Überhaupt nimmt er sich Zeit für seine Figuren, ohne dass jemals ein Hauch von Langeweile entsteht. Und er weiß um das Potenzial von Kontrastierungen. Bohrarbeiter Bill besucht nämlich eine Theaterprobe, in der Virginie auftritt. Den Zusammenprall zweier Welten nutzt McCarthy zur Annäherung zwischen beiden. Aus den Freunden wird ein Liebespaar.
Die Entscheidung
Dramaturgisch fachgerecht wird an dieser Stelle die nächste Wendung vollzogen. Bill besucht mit Maya ein Spiel von Olympique Marseille. In einiger Entfernung kann er gegen Ende des Spiels unter den Zuschauern den gesuchten Akim ausmachen. Bill steht vor einer elementaren Entscheidung: Soll er den vermeintlichen Mörder verfolgen oder die kleine Maya nach Hause bringen? So oder so – einen von beiden wird er verlieren. Bill entscheidet sich für die Verfolgung. Schließlich kann er Akim in einer ruhigen Straße unschädlich machen und ins Auto schleppen, auf dessen Beifahrersitz Maya inzwischen eingeschlafen ist.
Gefängnis
Bill hält Akim in einem Verschlag im Keller des Altbaus gefangen. Dabei versichert er sich Mayas Stillschweigen, womit er die Kleine zur Komplizin macht. Das ist dramaturgisch genial: Mit diesem Missbrauch an Maya versucht er Allisons Unschuld zu beweisen. Man hadert mit ihm und versteht ihn zugleich. Jetzt kann Bill auch dem Ex-Polizisten die DNA-Probe aushändigen, womit er die Kripo allerdings auf seine Fährte lenkt. Bevor es soweit ist, erfährt Bill allerdings noch von seinem Gefangenen, dass er Lina im Auftrag von Allison ermordet hat. Seine Bezahlung: Eine goldene Kette mit der Gravur ihres Heimatortes „Stillwater“.
Schwachpunkt
Singular. Es gibt nur einen. Wenn Akim über mehrere Tage im Keller gefangen gehalten wird, hätte man zur Dramatisierung eine Fluchtsituation durchspielen können oder müssen. Von ihm geht erhebliches Gefahrenpotenzial aus. Seine einzige Chance ist die Flucht und das Untertauchen, was er ohne Rücksicht auf Verluste verfolgen würde. Der schlimmstmögliche Fall wäre eine Geiselnahme und Gefährdung Mayas.
McCarthy hat sich für eine Überraschung entschieden. Als die Polizei den Keller durchsucht, fehlt von Akim keine Spur. Der Zuschauer kann nur spekulieren, wer seine Freilassung veranlasst hat. Es könnte Virginie gewesen sein, aber dann wäre ihr sofort klar geworden, dass Bill ihre Tochter bei der Gefangennahme eines Mörders benutzt hat. Sehr wahrscheinlich hätte sie umgehend die Polizei verständigt und Bill mit diesem Verrat konfrontiert. Kommt eigentlich nur Bill in Frage, der ja von Akim erfahren hat, dass Allison die Anstifterin des Mordes war. Diese Tatumstände würden bei einem Verhör und bei Übereinstimmung der DNA-Proben sofort ans Licht kommen. Also, Bill hat Akim frei gelassen, um seine Tochter zu schützen. Nur diese Variante ergibt einen Sinn. Aber das hätte man deutlich machen müssen.
Finale
Virginie wirft Bill am Ende aus der gemeinsamen Wohnung. Es folgt einer tränenreicher Abschied von Maya. Beide hat er verloren, aber Allison wird nach Wiederaufnahme des Verfahrens auf freien Fuß gesetzt, zumal sie mehrere Jahre ihrer Haftstrafe bereits verbüßt hat. Zurück in „Stillwater“ (Oklahoma) konstatiert Allison, dass hier alles noch genauso aussieht wie früher. Für Bill gilt das nach seiner Wiedergutmachungsreise nicht: „Alles sieht für mich anders aus.“
Fazit
Wie in „Station Agent“ demonstriert Tom McCarthy auch hier sein Talent, skurrile Freundschaften spannend und berührend zu erzählen. In „Stillwater“ wird es zudem noch gewinnbringend mit einem klassischen Erzählmotiv kombiniert. Ganz großes Kino!
„Mystic River“ ist ein Krimidrama von Clint Eastwood nach dem gleichnamigen Roman von Dennis Lehane. Es hätte ein ganz großer Wurf werden können, wenn – ja wenn dieses desaströse Ende nicht gewesen wäre. Die Geschichte erinnert an „Sleepers“ von Barry Levinson und bringt alle dramatischen Voraussetzungen mit. Die Darsteller sind so ziemlich das Beste, was zur Verfügung stand: Sean Penn als Krimineller Jimmy Markum, Tim Robbins als traumatisierter Familienvater Dave Boyle, Kevin Beacon als Sean Devine, Detective der Mordkommission, und vor allem Marcia Gay Harden als Celeste Boyle, Daniels zweifelnde Ehefrau. Schauspieler und Regie agieren einfach grandios.
Story
Wie bei „Sleepers“ wird das Drama mit der Vorgeschichte eingeläutet. In einem Bostoner Arbeiterviertel spielen die drei Freunde Jimmy, Sean und Dave, damals ungefähr 11 Jahre alt, auf der Straße. Aus einer Laune heraus ritzen sie ihre Namen in einen frisch betonierten Teil des Bürgersteigs. Ein ziviler Polizeiwagen hält. Der vermeintliche Polizist maßregelt die Jungs und nötigt Daniel, in den Wagen zu steigen. Damit gerät er in die Fänge eines Pädophilen. Nach Tagen gelingt ihm zwar die Flucht, aber eigentlich, so Daniel 25 Jahre später, hat sein Leben damals geendet. Auch die anderen beiden leiden unter diesem traumatischen Ballast. Jimmy ist ein Krimineller, der zwei Jahre im Gefängnis gesessen hat. Sean leidet unter der Trennung von seiner Ehefrau. Mit der Ermordung von Jimmys 19-jähriger Tochter kreuzen sich die Lebenswege der drei Freunde erneut auf tragische Weise.
Schwachpunkte
Wenn Jimmy den mordverdächtigen Dave fälschlicherweise umbringt, ist das dramaturgisch richtig. Mehr geht kaum. Andererseits lässt Jimmy die Erkenntnis, einen Unschuldigen ermordet zu haben, völlig kalt. Weniger geht kaum. Auch dass Sean ihn ungeschoren davonkommen lässt, ist mehr als schwach. Das ist auch nicht glaubhaft, zumal Sean damit die Seiten wechselt. Er macht sich in der Funktion eines Kriminalbeamten eines Kapitalverbrechens schuldig. Ferner ist das beschwörende Liebesgefasel von Jimmys Ehefrau, die es offensichtlich toll findet, mit einem Mörder zusammenzuleben, ziemlich nervig. Ein großer Zufall ist es auch, dass Dave just zur Tatzeit der Ermordung von Jimmys Tochter, einen Pädophilen erschlagen hat. Nur diese zufällige zeitliche Überschneidung wird ihm letztlich zum Verhängnis.
Lösungen
Ganz einfach. Das Anfangsbild von „Mystic River“ hätte auch der Schluss sein müssen: Der Einsatzwagen mit zwei Polizisten. Nur dieses Mal sind es echte Ermittler, nämlich Sean und sein Partner. Sie hätten Jimmy nur die hintere Tür des Wagens aufhalten, ihn dieses Mal gar nicht nötigen müssen. Denn die Erkenntnis, Dave irrtümlich ermordet zu haben, hat ihn endgültig aus der Bahn geworfen. Jimmy wäre förmlich auf die Rückbank des Polizeiwagens geflohen. Dann hätte sich der Kreis geschlossen. Anstatt in den Fängen eines Pädophilen wäre Jimmy in die Mühlen der Justiz geraten und zwar für immer. Jimmys Frau hätte, ähnlich wie Celeste, Zweifel am Eheleben mit einem Mörder entwickeln können. Das hätte das Drama vollendet.
„The Black Dahlia“ ist ein Krimi nach dem gleichnamigen Roman von James Ellroy. In seiner Adaption verzettelt sich Regisseur Brian De Palma allerdings hoffnungslos. „Wirr“ ist die treffende Etikettierung. Es werden eine Fülle von Personen und Erzählsträngen aufgeboten, die allesamt nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun haben. Die handelt nämlich vom unaufgeklärten, bestialischen Mord an dem 22-jährigen Starlet Elizabeth Short. In „The Black Dahlia“ werden – im Gegensatz zum Roman – die Täter am Ende entlarvt, und zwar unter völlig abstrusen Umständen. Eine der vielen Fehlentscheidungen.
Redundanz
Der Krimi beginnt mit Straßenkämpfen, Flashbacks und einem gefakten Boxkampf zwischen den beiden Cops Officer Dwight „Bucky“ Bleichert (Josh Hartnett) und Sergeant Leland „Lee“ Blanchard (Aaron Eckart). Feuer und Eis sind ihre Spitznamen. Mit den Erlösen aus dem verlorenen Kampf kann Bucky die Kosten für das Pflegeheim seines Vaters finanzieren. Dann erfahren wir, dass ein gewisser Bobby DeWitt demnächst aus dem Gefängnis entlassen wird. Offensichtlich gibt es da eine Vorgeschichte. Bucky, Lee und seine Freundin Kay (Scarlett Johansson) feiern Sylvester in einem Club, der einem Gangster gehört. Zum ersten Mal wird Korruption thematisiert. Und was hat das alles mit der eigentlichen Geschichte zu tun? Bis auf die Etablierung der Männerfreundschaft, nichts – aber auch gar nichts. So geht das dann munter weiter. Ständig fragt man sich, wer ist denn das oder was soll das denn? Antworten gibt es nur spärlich oder gar nicht.
Handwerk
Sehr schön sind die schwarzweißen Casting-Aufnahmen vom Mordopfer, die Bucky im Verlauf der Ermittlungen sichtet. Zum ersten Mal bekommt man hier Einblicke in die Abgründe des Showgeschäfts. Sehr schön ist auch die Filmmusik von Mark Isham, die mit ihren Jazz-Elementen an Polanskis „Chinatown“ erinnert. Hingegen passt sich die geleckte Kameraarbeit von Vilmos Zsigmond dem Aussehen der Protagonisten an: Alles so hübsch hier. Die Werbeästhetik passt aber nicht wirklich zur Atmosphäre dieser düsteren Kriminalgeschichte.
Fazit
Am Ende stellt sich die Mutter der verführerischen Madeleine Linscott (Hilary Swank) als rachsüchtige Killerin heraus, die Lee ersticht und dafür von Bucky erschossen wird. Deshalb erschießt sie sich dann selbst. Klingt komisch, ist aber nicht so gemeint. „Nichts bleibt für immer verborgen“, heißt es im Zuge der Ermittlungen, auch nicht, dass Brian De Palma zwar ein Bewunderer von Alfred Hitchcock ist, mehr aber auch nicht.
„Wiegenlied für eine Leiche“ von Robert Aldrich ist ein Genremix aus Psychothriller und Krimi (Whodunit). Er besticht durch seine Konzentration auf die Heldin Charlotte Hollis (Bette Davis) und ihre schräge Haushälterin Velma Cruther (Agnes Moorehead). Beide Schauspielerinnen agieren hervorragend. Abgesehen von der Backstory im Jahre 1927 sowie von zwei bis drei Szenen spielt alles im Jahre 1964 im museumsartigen Anwesen der Familie Hollis. Diese Fokussierung auf die Geschichte ist ein großer Vorteil (Einheit von Zeit, Raum und Handlung).
Handwerk
Handwerklich ist der Schwarzweißfilm brillant gemacht. Die Kameraarbeit ist herausragend. Die kontrastreiche Low-Key-Lichtstimmung unterstützt die unheilvolle Atmosphäre. Teilweise befinden sich die Gesichter der Personen komplett im Schatten. Für sein Herstellungsjahr hat „Wiegenlied für eine Leiche“ erstaunlich viele Nahaufnahmen. So stellt er eine Nähe zu seinen Figuren her und erhöht die Dramatik. Insbesondere in seinen Traumszenen entwickelt der Film eine visuelle Kraft. Sehr schön ist auch der Informationsfluss. So erfährt der Zuschauer beizeiten von den hinterhältigen Plänen der beiden Antagonisten, Charlottes Cousine Miriam Deering und Dr. Blayliss, Charlotte in den Wahnsinn zu treiben. Das schafft „Suspense“ und ist dramatisch. Leider gibt es eine Reihe von erzählerischen Ungereimtheiten, die den Gesamteindruck trüben.
Schwachpunkte
Ein Schwachpunkt ist die fehlende Schilderung der polizeilichen Ermittlungen sowie der Gerichtsverhandlung im Mordfall von 1927. Da wurde Charlottes Geliebter, der verheiratete John Mayhew, bestialisch ermordet. Tatverdächtig ist Charlotte, die als verschmähte Geliebte ein Motiv hätte und deren Kleid blutbesudelt ist. Da sie glaubt, ihr Vater Big Sam Hollis habe John im Affekt umgebracht, schweigt sie zu den Vorwürfen. Ein lapidarer Hinweis auf Papas immensen Einfluss führt zur Einstellung des Verfahrens gegen Charlotte. Das ist aber – mit Verlaub – ziemlich schwach.
Wie konnte denn Big Sam Hollis in diesem spektakulären Mordfall, der ja im Fokus des öffentlichen Interesses stand, leitende Ermittler zum Einlenken bewegen? Warum sollte Jewel, die tatsächliche Mörderin und Ehefrau des Opfers, überhaupt diesen tödlichen Hass auf ihren Mann entwickeln? Warum nicht auf seine Geliebte? Kann eine Frau mit einem Hackmesser überhaupt mit einem Schlag den Kopf eines Mannes abtrennen? Wäre sie nicht in jedem Fall blutbesudelt? Wieso ist Charlotte geschlagene 37 Jahre lang nicht in der Lage, eine Beziehung zu einem anderen Mann einzugehen? Rechtfertigt das traumatische Erlebnis eine Darstellung als alte Jungfer?
Ungereimtheiten
Wieso kommt die Lebensversicherung des Mordopfers auf die Idee, 37 Jahre nach seinem Ableben Ermittlungen anzustellen? Wieso nicht nach 10 oder 20 Jahren? Warum will die Versicherung dieser Sache überhaupt auf den Grund gehen? Das machen die doch üblicherweise nur wenn sie den Verdacht haben, übervorteilt zu werden. Wenn Velma der intriganten Miriam ihren Plan verrät, ihr und Dr. Bayliss mit Hilfe eines sicher gestellten Arzneifläschchens das Handwerk zu legen, ist das nicht besonders clever. Diese einfältige Drohung diskreditiert die interessanteste Figur. Was bleibt der derart in die Enge getrieben Miriam anderes übrig, als sich der Mitwisserin zu entledigen?
Wenn Charlotte am Schluss auf dem Rücksitz eines PKW’s davonfährt, ist unklar, wohin die Reise geht. Sind ihre Begleiter Mitarbeiter einer psychiatrischen Klinik, womit die Antagonisten ja ihr Ziel erreicht hätten? Handelt es sich um Amtsträger, die die Besitzerin des vom Abriss bedrohten Anwesens in Sicherheit bringen? Oder sind es Kriminalbeamte in Zivil, die Charlotte zum Ableben von Miriam und Dr. Bayliss eingehend verhören wollen?
Lösungen
Für Big Sam Hollis wäre es doch viel einfacher und glaubhafter gewesen, einen Geschworenen in der anstehenden Gerichtsverhandlung zu bestechen als leitende Staatsanwälte. Ferner hätte man in der Folgezeit, um die Heldin nicht zu diskreditieren, zumindest gescheiterte Versuche von Kontaktaufnahmen zu anderen Männern zeigen können. Des weiteren wäre als Tatwaffe ein Revolver viel geeigneter gewesen. Es hätte erklärt, weshalb nur Charlottes Kleid blutbefleckt war, nicht aber das der Täterin. Außerdem wird der Revolver ja auch später noch von den Antagonisten ins Spiel gebracht, als sie versuchen, Charlotte in den Wahnsinn zu treiben.
Den freundlichen Versicherungsvertreter hätte man durch einen hartnäckigen FBI-Agenten einer Cold-Cases-Abteilung ersetzen können. Velma hätte ihre Absicht, mit Hilfe des Arzneifläschchens Miriam und Dr. Bayliss das Handwerk zu legen, einfach verheimlichen können. Wenn Miriam sie trotzdem durchschaut hätte, wäre das der Spannung ja nicht abträglich gewesen. Im Gegenteil (Anmerkung von Alfred Hitchcock: „Je gelungener der Schurke, umso gelungener der Film.“) Außerdem hätte man Velma, der mit Abstand interessantesten Figur dieser Geschichte, ein Überleben gegönnt. In „Wiegenlied für eine Leiche“ wäre ein Happy End, ein Sieg der beiden weiblichen Protagonisten, die Lösung gewesen.
„Der denkwürdige Fall des Mr Poe“ ist ein behäbiger und leidlich spannender Krimi, genauer ein Whodunit (an anderer Stelle sind wir schon ausführlich auf die dramaturgischen Beschränkungen derartiger Krimiplots eingegangen). Da Edgar Allan Poe (Harry Melling) eine gewichtige Rolle spielt, darf das Morbide, das Okkulte natürlich nicht fehlen. Schauplatz ist die US-amerikanische Militärakademie West Point im 19. Jahrhundert. Ein vermeintlicher Selbstmord mit anschließender Leichenschändung veranlasst die Leitung der Akademie den New Yorker Polizisten Augustus Mandor (Christian Bale) mit den Ermittlungen zu beauftragen. Vor allem gilt es, die entstandene Unruhe unter den Kadetten im Keim zu ersticken und die Finanziers zu beruhigen. Für West Point geht es um die Rettung seiner Ehre.
Die Geschichte
Vor Ort findet Augustus schnell heraus – was wir schon ahnen -, dass es sich hier um einen Mord handelt. Außerdem findet er einen Papierfetzen in der Faust des Toten, auf dem ein paar Wörter und Buchstaben zu lesen sind. Für die Dechiffrierung spannt Augustus den Kadetten Edgar Poe für seine Arbeit ein. Der entpuppt sich als morbide, trinkfeste und dichtende Quasselstrippe. Ein Gewinn für den Film und für Augustus, denn sein Gehilfe kann sich Zugang zu einer okkulten Studentengruppe verschaffen. Mitglieder sind auch Lea und Artemus, die beiden erwachsenen Kinder des Akademiearztes Dr. Marquis. Edgar verliebt sich in Lea, mit der er seinen Hang zum Morbiden teilt. Als beide sich auf dem Friedhof näherkommen, erleidet Lea einen Anfall und windet sich am Boden. Edgar ist verstört, aber auch fasziniert.
Teufelsanbeter
Derweil wird ein weiterer Student stranguliert aufgefunden. Ihm wurden ebenfalls Organe herausgeschnitten. Nach dem Besuch bei einem Professor für Okkultismus, reift in Augustus der Verdacht, es hier mit Teufelsanbetern zu tun zu haben. Bei einem Abendessen im Haus von Dr. Marquis kommt es zum Eklat. Augustus nutzt die Unruhe, um herumzuschnüffeln. Schließlich findet er eine Uniform, die der Mörder getragen haben soll. Auf der Suche nach Edgar findet Augustus ihn in den Fängen der Teufelsanbeter. Lea und Artemus sind drauf und dran, Edgar in einem satanischen Opferritual zu töten. Im letzten Moment kann Augustus ihn befreien, während Lea und Artemus in den Flammen eines entstandenen Brandes ums Leben kommen.
Rachedrama
Damit scheint der Fall geklärt. Aber der Film hat noch eine Wendung parat und mutiert zum Rachedrama: Im Showdown sucht Edgar den Polizisten auf und weist ihm nach, der eigentliche Urheber der Morde zu sein. Die Schändungen der Opfer dienten nur der Verschleierung. Das Motiv von Augustus war Rache für seine von Kadetten der Militärakademie vergewaltigte Tochter, die im Anschluss Selbstmord beging. Originalton Augustus: „Ich wollte nicht, dass diese Männer gestehen. Ich wollte, dass sie in den Tod gehen.“ Das als Leitmotiv für die Geschichte zu postulieren, ist nicht sonderlich originell, eher ein bisschen stupide. Vielschichtiger und intelligenter hat es zum Beispiel Ariel Dorfman in Polanskis Rachedrama „Der Tod und das Mädchen“ gelöst.
Finale
Diese Wendung am Schluss von „Der denkwürdige Fall des Mr Poe“ mit den Flashbacks ist ein großer Schwachpunkt und wirkt arg konstruiert. Die Umstände der Vergewaltigung muten schon sehr seltsam an. So muss als Tatort ein finsterer Wald herhalten, wobei das Gelände der Akademie viel besser gewesen wäre. Hier hätte man sich eine feucht-fröhliche Feier vorstellen können, in deren Verlauf es in der Nähe des Festsaals zu Übergriffen und zum tödlichen Unfall gekommen wäre. Die Leiche der Tochter hätten die Täter dann im Wald abladen können. Nach dem finalen Geständnis verschont Edgar seinen polizeilichen Mentor, weil er dessen Motive versteht und ihm sein Leben verdankt. Jetzt sind sie quitt.
Schwachpunkte
Ein anderer Schwachpunkt ist der behäbige Spannungsaufbau. Im Grunde gerät die Hauptfigur, Augustus Mandor, nicht einmal wirklich in Gefahr. Edgar hingegen schon, als er sich der schönen Lea hingibt und Augustus auf die Schliche kommt. Folglich wäre er der tauglichere Held gewesen. Abgesehen davon ist er die wesentlich interessantere Figur. Überhaupt liest sich Edgar Allen Poes Biographie wie eine spannende Schauergeschichte. Eigentlich hätte man sein Leben verfilmen sollen.
Der Krimi „The Hollow“ fängt damit an, dass Dorfsheriff Beau McKinney (William Sadler) sich während seines Dienstes im Einsatzwagen einen blasen lässt. Zeitgleich verkauft er Drogen aus dem Seitenfenster heraus. Als Sheriff im Bundesstaat Mississippi muss man eben multitaskingfähig sein. Weiter geht’s mit einem Übernachtungstipp von McKinney für ein durchreisendes, junges Liebespärchen, die leider auf ihn hören. Mit ihrem Wagen fahren sie an einsamen See, wo sie ermordet werden.
Figuren
Schnitt. New York. Der volltrunkene FBI-Agent Vaughn Killinger will mit seiner Kollegin Sarah Desoto schlafen. Letztlich kein Problem. Am nächsten Morgen kommt er natürlich nicht aus dem Bett, woraufhin seine Partnerin folgendes zu ihm sagt: „Du musst trotzdem aufstehen.“ Spätestens jetzt bestätigen sich alle unheilvollen Ahnungen, hier in den tiefsten Niederungen der Filmgestaltung gelandet zu sein. Dann gibt es eine quälend lange Szene, in der Killinger sich bei seinem kleinen Jungen entschuldigt, mit dem er eigentlich Zeit verbringen wollte. Handlungsrelevanz?
Cut
Mississippi. Der örtliche Polizeichef kündigt seinen Leuten das Erscheinen der FBI-Agenten an. Er hält McKinney eine Standpauke und ermahnt ihn, seine Nebengeschäfte vorerst einzustellen. Wie bitte? Also, ist der Polizeichef Mitwisser von Drogengeschäften seiner Polizisten. Wer soll das denn alles glauben? Für welche dieser künstlichen, klischeehaften Figuren soll man sich in „The Hollow“ interessieren? Abbruch.
„City of Lies“ ist ein hervorragend gemachter Krimi (kein Thriller), der auf einem Tatsachenroman von Randall Sullivan beruht. Hauptperson ist Russell Poole (Johnny Depp), ehemaliger Detective des LAPD. Der hatte in den 90er Jahren, nach dem Tod von Rapper Tupac Shakur in Las Vegas, den Mord am Rapper The Notorious B.I.G. in Los Angeles untersucht. Irgendwann stieß Poole auf Verdachtsmomente, demnach das einflussreiche Hip-Hop-Label Death Row Records und Polizisten des LAPD ihre Finger im Spiel hatten. Trotz eindeutiger Warnungen ließ er sich bei seinen Ermittlungen nicht beirren und schaltete sogar die Staatsanwaltschaft ein. Kurz darauf wurde der Nestbeschmutzer erst versetzt, dann suspendiert. Der korrupte Policeofficer Rafael Perez klärte Poole auf, worum es hier ging: Um „Muschis und Macht“.
Die Geschichte
18 Jahre später lebt Poole allein in einer heruntergekommenen Wohnung. An den Wänden Relikte seiner Ermittlungen zum Mordfall, die ihn offensichtlich nicht losgelassen haben. Da bekommt er Besuch vom Journalisten Jack Jackson (Forest Whitaker). Aus der anfänglichen Abneigung entwickelt sich eine Zusammenarbeit, in deren Verlauf der ganze Fall noch einmal neu aufgerollt wird und mafiöse Strukturen transparent werden. Trotz Beweise von Straftaten involvierter Polizisten hat es in knapp 20 Jahren keine einzige Festnahme gegeben. Pool erläutert Jackson diesen Sachverhalt: „Sie haben keine Ahnung, wozu das LAPD imstande ist“.
Die Form
Die komplexe Geschichte verlangt Konzentration. Der Wechsel zwischen den zeitlichen Ebenen erfolgt fließend und ist teilweise nicht sofort erkennbar. Der füllige Bauchumfang des alternden Poole liefert Indizien, ebenso wie die Farbgestaltung. Ansonsten eine echte Herausforderung. Eine tolle Montage. Super. Die Schauspieler agieren herausragend und sind inklusive aller Nebenfiguren brillant gecastet. Die Ausstattung ist nicht minder exzellent. Die Kameraarbeit ist konzentriert und sorgt mit düsteren Bildern für eine latent bedrohliche Atmosphäre. Ein Film Noir im besten Sinne.
Schwachpunkte
Keine Schwachpunkte? Doch. Da gibt es einen Nebenerzählstrang, der Russell Pooles gestörte Beziehung zu seinem Sohn beschreibt. Offensichtlich ist es im Zuge von Pooles Suspendierung auch zu privaten Zerwürfnissen gekommen. Aber das ist Spekulation, konkretisiert wird das nicht. Unklar bleibt auch, warum die Filmemacher die Vater-Sohn-Beziehung thematisieren und nicht Russells Trennung von seiner Ex-Frau, die es ja gegeben haben muss? In jedem Fall hat dieser Nebenerzählstrang keinerlei Handlungsrelevanz. Einmal gerät Jackson in eine nächtliche Polizeikontrolle. Da dürfen wir mit ihm mitzittern. Das war’s dann. Eigentlich hätte man sich in diesem Punkt ein bisschen mehr gewünscht, gerade angesichts der bevorstehenden Buchveröffentlichung. Hier taucht natürlich wieder die Frage auf, inwieweit sich ein Filmemacher von den Fakten entfernen darf? Er darf es. Er benötigt nur Einsicht und Mut. Ein Spielfilm ist doch nur ein Spiel, eine Fiktion, wobei die Entwicklung von Gefahrenmomente eine zentrale Bedeutung hat.
Finale
Am Ende stirbt Poole an einem Herzinfarkt. Seine kurz vor dem Ableben gestellte Frage „Wofür war das dann alles?“, beantwortet Jackson mit der Veröffentlichung seines Buches. Aber das Ende bleibt ansonsten offen. Das LAPD hat den Fall offiziell nicht abgeschlossen, aber auch keine neuen Ermittlungen eingeleitet. Er befindet sich sozusagen auf einem Abstellgleis, womit Pooles Theorie bestätigt wird: „Ein Mord wie dieser wird nur dann nicht aufgeklärt, wenn die Polizei ihn nicht aufklären will.“ Desgleichen wird im Nachspann auf eine Statistik hingewiesen, demnach 50% der Morde an Schwarzen unaufgeklärt bleiben.
Fazit
Trotz des authentischen Hintergrunds ist das offene Ende ein bisschen unbefriedigend. Irgendwie verlangt diese Geschichte nach einer Fortsetzung, nach einem zweiten Teil. Dafür sprechen auch die dubiosen Gründe für die Absetzung von „City of Lies“ in den amerikanischen Kinos im Jahre 2018. Erst nach einer europäischen Festivalteilnahme fand der Film 2021 noch seinen Weg in die Kinos, wobei die Besucherzahlen aufgrund der Corona-Pandemie sehr niedrig waren. Er hätte viel, viel mehr verdient.