Nichts für schwache Nerven. Clint Eastwood demonstriert mit „Der fremde Sohn“ mal wieder sein Gespür für das dramatische Potenzial von Filmstoffen, die auf wahren Begebenheiten beruhen. Der Psychothriller behandelt die Wineville-Chicken-Coop-Morde, die sich in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in der Nähe von Los Angeles ereigneten. Die absurd anmutende Geschichte würde wohl ohne dieses Hintergrundwissen als völlig unglaubwürdig eingestuft werden, als Machwerk eines durchgeknallten Autors. Aber gerade dieses Wissen um die wahren Begebenheiten steigert die Fassungslosigkeit des Betrachters angesichts dessen, was der Heldin Christine Collins (hervorragend: Angelina Jolie) da widerfährt.
Die Geschichte
Christine ist alleinerziehende Mutter des neunjährigen Walter. Als sie eines Abends von der Arbeit kommt, ist der Junge verschwunden. Alle Nachforschungen, bei dem das LAPD keine große Hilfe ist, verlaufen im Sande. Erst als Reverend Briegleb in seinen Predigten die mafiösen Strukturen der Polizei anprangert und die Presse mobilisiert, kommt Bewegung in den Fall. Das LAPD braucht Erfolgserlebnisse und erklärt kurzerhand einen aufgefunden Jungen gleichen Alters als den vermissten Walter. Christine wehrt sich gegen diese Willkür und wird schließlich ohne richterliche Anordnung in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Parallel stößt ein Detective des LAPD bei seinen Ermittlungen auf die Serienmorde des Kanadiers Gordon Northcott, der auf seiner Farm dutzende von Kindern missbraucht und getötet hat. Es stellt sich heraus, dass auch Walter auf der Farm gefangen gehalten wurde. Nach Intervention des Reverends wird Christine schließlich wieder auf freien Fuß gesetzt. Der Bürgermeister und die verantwortlichen Polizisten werden von ihren Ämtern suspendiert. Christine gibt ihre Hoffnung nicht auf, dass ihr Sohn doch noch am Leben sein könnte.
Stärken
Die besten Filme haben ganz einfache und verständliche Geschichten. Das ist einer der Vorzüge von „Der fremde Sohn“. Er konzentriert sich auf das Verschwinden eines Kindes und der daraus resultierenden Sorge seiner Mutter, die in albtraumhaften Sequenzen vorbildlich eskaliert wird. Anstatt Hilfe zu erfahren, gerät Christine in die Fänge eines sadistischen Psychiaters. Diese schreiende Ungerechtigkeit erzeugt Emotionen. Angelina Joli hätte man diese ergreifende Darstellung einer Charakterstudie gar nicht zugetraut. Als Captain Jones sie zum Beispiel am Arbeitsplatz aufsucht und ihr mitteilt, dass Walter gefunden wurde, geht ihre Reaktion schon unter die Haut. Am Ende gibt es Hoffnung, auch weil sie allmählich ins Leben zurückkehrt und sich mit dem fürsorglichen Ben verabredet.
Schwächen
Gut und Böse sind klar verteilt. Das trägt einerseits zum Verständnis bei, andererseits sorgt es nicht gerade für Überraschungen, zumal die Figuren im Verlauf der Geschichte keine Entwicklungen erfahren. Dann hat Christine zu viele wohlgesonnene Helfer, zum Beispiel den Reverend und Anwalt Hahn. Das ist zwar ganz schön, wenn sie Unterstützung erfährt, aber nicht dramatisch. Hier wäre die Etablierung von Hindernissen vorteilhaft gewesen. Entscheidender Schwachpunkt ist aber die frühe Terminierung von Christines Freilassung aus der psychiatrischen Klinik. Ab diesem Moment sackt der Spannungsbogen rapide nach unten. Ihre Freilassung hätte natürlich am Schluss platziert werden müssen, quasi als Folge des Gerichtsprozesses, in dem Captain Jones und Chief Davis suspendiert wurden.
Fazit
„Der fremde Sohn“ ist ein hervorragend gemachter Psychothriller, brillant fotografiert und inszeniert, mit dramaturgischen Schwächen im letzten Drittel.
